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pool #40 08.04.-14.04.2000
pool #39 / pool #41
Also erst gezuckt, als ich im Zug U. Poschards do-the-right-thing Artikel in der SZ
gelesen habe. Sofort etwas in den Computer gehackt über P. und M. Biller und Fötzingen,
Moral und Besserwisserei, das ging so leicht von der Hand. Es war grauenhaft: es klang wie
ein schlauer, ganz ausgekochter ZEITUNGSARTIKEL. Dann zum Glück POOL gelesen. Da steht
schon alles, und viel besser. Der Glücksmoment: daß man etwas nicht mehr sagen muß.
Immer genau davon geträumt. Daß man nicht der Größte ist, der Erste, der etwas sagt.
Oder der Letzte. Nicht der Schlußwortmann sein, die Keule, der GEWINNER. Die anderen sind
schon da, besser, schöner.
Viel besser, versteht meistens keiner, daß ich meist glücklicher bin Teil eines
wunderbaren Gedankens sein, den ein anderer ausspricht.
Geheimniskrämer: Der dicke Mann im Nebenabteil. Er kommt leicht schnaufend zu uns rein.
Ob er die Süddeutsche, oder hätten wir die noch nicht gelesen? Nö. Schade, ja. Zögert.
Na nichts für ungut. Vielleicht will er ja nur seine Füße drauflegen, sagt Elke. Ich
gehe rüber und bringe ihm den Wirtschaftsteil. Ob er den will, also was er denn aus der
Süddeutsche braucht. Er schnauft. Nein, nein, wenn wir sie noch nicht gelesen hätten. Er
sei Steinbock, sagt er plötzlich. Am liebsten hätte er jetzt sein Horoskop aus der Bild.
Er hat sein Horoskop heute noch gar nicht gelesen. Ja, und die Aktienkurse, auch, ja. Tja,
sage ich, leider, er sieht die Zeitung in meiner Hand wirklich gierig an. Sein Horoskop,
das wäre jetzt wirklich wichtig. Ich nicke, dann mache ich seine Tür zu und gehe ins
Restaurant sein Horoskop lesen.
PS: Ganz durchtriebene, unglaublich schlaue Geheimniskrämerei:
the Buch ist das BUCH, das hier keine 3 Pixel vom pool entfernt von poolisten und
loopstern gemeinsam geschrieben wird. Sehr privat. Weil man kann es dann im Bett lesen,
jemandem ins Ohr murmeln, seinen Wein darauf abstellen und jede Seite einzeln im
Kerzenlicht anlecken. Vor allem: man kann es erwarten. Es erscheint ja erst in einem Jahr,
und doch: es stehen schon Sachen drin. Die stehen hier nicht. Vielleicht.
Sven Lager , Reeperbahn Nr.1, Mojo-Club, - 08.04.00 at 03:47:23

antje dorn berlin, - 08.04.00 at 12:27:56
1.
Hat ihn vielleicht noch jemand gelesen, den großen, großartigen ZEITUNGSARTIKEL von Dr.
Ulf Poschardt in der SZ vom Freitag?
Der neoliberale Gestus der Popliteratur ist zutiefst asozial, so wie der politische
Zeitgeist zumal, und damit selbstverständlich verfassungsfeindlich. Das Problem ist, daß
Kapitalismuskritik hippie, also 68, also scheiße ist, so sinngemäß Dr. Poschardt. Eben.
Kapitalismuskritik in Prada-Loafers ist es, was fehlt - Marxisten in business suits, wie
weiland Martin Fry von ABC im "Summer of Love" 82. Die ganze Popdiskussion
gerät ohnedies mehr und mehr zu einer Zeitreise in die frühen Achtziger. Aber nach Dr.
Poschardts ZEITUNGSARTIKEL sind die Karten neu gemischt. Wortmeldungen hierzu?
2.
Popsong (im Radio):
Halt's Maul
Halt's Maul
Halt's Maul
sonst hol ich die Bullen
oder häng mir dein Hirn in einem Säckchen
um den Hals
3.
Maschinengewehr (im Bücherregal):
Michaela Mélian: Mossberg Model Bullpup, 1995, Frottee und Füllmaterial
Georg M. Oswald - 08.04.00 at 19:10:31
00: 24
Ich hatte Jesus, Napoleon, Kleopatra (als Quotenfrau) Marc Aurel, Flaubert und Hitler
eingeladen, um gemeinsam mit mir die aktuelle Weltlage zu erörtern. Gekommen ist - und
spät - nur Flaubert, der saß dann in der Küche, spachtelte für fünf und meinte, das
sei schon alles ganz in Ordnung so.
Den Wein befand er für zu jung. Bei Toten nehme ich diesen Vorwurf selten ernst.
Ob er meine Gedichte gelesen hätte? Jaja, aber von Lyrik habe er noch nie viel
verstanden, wo hier das Klo sei? Und dann war er weg.
1:34
In meinem Schlafzimmer hockten die Berliner Philharmoniker von 1928.Alle auf einmal.
Ich ging an ihnen vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie machten
seltsame Gebärden, auf einmal erklang Musik. So kam es, daß ich lange wach lag,
umlungert von Berliner Philharmonikern. Morgens beschwerten sich die Nachbarn, von denen
ich aus dem Munde ihres Hundes aber genügend wußte, um sie nachhaltig einzuschüchtern.
13:04
So ist die Lage. Morgen lade ich Brahms ein. Der zeigt sich froh um jeden, der ihm
zuhört.
Diskutierte gegen Mittag mit Heiner Link über meine Sonderstellung in der deutschen
Literatur. "Zweiter sein ist auch recht fein." Sagte er, bevor er zu Fuß den
Heimweg nach Eichenau antrat.
HelK m, - 09.04.00 at 02:50:22
schade
robbe lipsia - 09.04.00 at 03:08:24

antje dorn, berlin, - 09.04.00 at 12:27:02
Ulf Poschardt als Plastiktüte
Ulf Poschardt bei Zweitausendeins: sieht wirklich gut aus
Abb.: Ulf Poschardt
Andreas Neumeister - 09.04.00 at 13:20:52
Nachdem er sich lange geziert hat und dann gestern in Berlin die Veranstaltung gesprengt
hat: endlich
HEINER LINK am pool
Herzlich Willkommen
Sven Lager B., - 09.04.00 at 15:50:28
1
Vermutlich ist Vorfreude der Grund, daß man so früh aufbricht. Jedenfalls reicht die
Zeit für den Bus.
2
An der Haltestelle ein rundes, freundliches, asiatisches Gesicht. Ich muß lange starren,
bis ich es begreife: Es ist der buddhistische Bet-Trommler aus der Wilmersdorfer Straße,
jetzt offenbar in Zivil. Bluejeans und Jacke. Er steigt schon vor dem Flughafen aus.
3
Die Liebe kichert vor dem Nachmittagsschlaf. "Du fühlst dich ganz anders an, da am
Rücken." Unter fremden Händen spüre ich neue Muskeln.
4
Das Kalenderblatt vom Wochenende hebe ich auf. Sassetta, Die Begegnung zwischen dem hl.
Antonius und dem hl. Paulus. Auf goldenem Grund dunkle Wälder. Vorne liegen sich die
beiden in den Armen.
Carmen Samson Berlin, - 09.04.00 at 17:29:24
Gerade, auf dem mit Berliner Taschen beladenen Weg vom Marienplatz zu mir nach hause -
Zwischenmoment, einer der berühmten, der todtraurigen, die einen als denkenden Menschen,
den eigentlich ja immerzu denkenden Menschen, echt umhhauen können: Da stand so ein
trauriger Oma-Mensch, die Münchner Sorte, mit Kittel und Blümchen-Krägelchen und grauem
Putzlumpen-Haargekräusel auf dem Kopf da auf dem Bürgersteig und schaute einem Vöglein
zu. Putt putt putt, das Vöglein. Traurig da hin, da runter, zum Vöglein guckend: das
Oma-Vöglein. Mein Gott. Es stach mir derartig tief ins Herz, das pochende, angestrengte,
hinein.
Tom Kummer möchte nun lieber keine Würschte mitgebracht bekommen, die würden mir
nämlich abgebommen am Zoll. Lieber will er: das neue Buch von Christian Kracht, das hat
er nämlich noch nicht, überhaupt, am liebsten was Deutsches zum Lesen. Wird erlädischt.
Helge Malchow schickt die KiWi-Fibel zum Kölner Karneval, weil wir in Tutzing so nett
Kölsche Karnevallslieder gesungen haben. Supernett! Vielen Dank.
Moritz von Uslar, München, - 09.04.00 at 19:56:32
10.07.
Panik im Treppenhaus. Angstzustände. Fester Vorsatz: Mariacron nur noch in Notfällen.
12.07
Arbeit am Gedichtband. Am Stammtisch der "Alten Post".
13.07.
Stimmen, Pfeiftöne.
15.07.
Wieder Sturz im Treppenhaus. Briefträger gerammt.
17.07.
Viel Rum. Aus Langeweile ein Weinregal gezeichnet. Dann mehrere Haltegriffe montiert.
19.07.
Lektüre: Elixiere des Teufels. Harmlos. Wurde sehr schnell sehr betrunken und dann
wiedergeboren als leere Flasche.
20.07.
Beschloß, diverse Möbel mit Boden oder Wand zu verschrauben. Während der Arbeit nur
Starkbier.
21.07.
Lektüre: Norbert Niemanns Magisterarbeit. Viel geweint.
24.07.
Mit dem Taxi ins Baader. Zu viele kurze Röcke für meinen Nervenzustand. Ballantines.
Wurde schließlich von völlig fremden Menschen angegriffen und zu Boden geschleudert. Dem
Taxifahrer versprochen, sein Leben zu verfilmen. 40 Mark Trinkgeld gegeben.
25.07.
Sprach im Bundeskanzleramt auf den Anrufbeantworter. Meine Frau riet mir, ein Bad zu
nehmen.
26.07.
Briefe, Faxe, Notizzettel, Bücher, Unterlagen, Telefon und den Hocker, über den ich zwei
Mal täglich falle, aus dem Fenster geschmissen.
28.07.
Mit Rudi in der Bahnhofswirtschaft. Goethe stieß dann auch dazu und Schlegel, glaube ich.
Gespräche über indische Poesie und Rudis neuen Preßlufthammer.
30.07.
Brief vom Verlag ungeöffnet meinem Sohn geschenkt.
02.08.
Von 17.00 bis 17.10 Uhr: Arbeit am Gedichtband. Dann neuen Drink erfunden. Ein Drittel
Scotch, ein Drittel polnischer Wodka, ein Drittel Strohrum und ein Drittel
Kartoffelschnaps. Dazu ein Spritzer Heizöl. Schmeckt ein bißchen gewöhnungsbedürftig,
knallt aber gut.
03.08.
Nachdenken über poetologische Probleme der Moderne erschwert durch herumsausendes
Kleingetier.
05.08.
Fiel über unsichtbaren Schraubenzieher. Platzwunde. Notarzt.
07.08.
Saugte am Glas und wollte an der Zigarre trinken. Spät nachts Camille Saint-Saens
gehört: Danse Macabre op. 40. Polizei. Zeigte ihnen meinen Studentenausweis von 1983.
Ausnüchterungszelle.
09.08.
Kleines Sit-in mit Michel de Montaigne, Mörike, Ludwig Rubiner und diesem Mooshammer.
Gesprächsthemen: Die Liebesdialektik der Renaissance im Lichte von Mode und Verzweiflung
des 21. Jahrhunderts. Verschüttete jede Menge Brandy. Muß dann auf Mooshammers
Schoßhündchen getreten sein. Brei im Teppich.
10.08.
Jesus hat sich schon länger nicht mehr gemeldet.
11.08.
Wachte nahezu unbekleidet im Nachbarsgarten auf. Stürzte bei Sprung über Zaun.
Nervenflattern. Prellung beider Handgelenke. Kaufte gleich Strohhalme.
13.08.
Versuchte in Ossis Brotzeitstüberl ein Schaschlik zu mir zu nehmen. Dazu sechs Bier,
sechs Kurze. Übergab mich dann zu Hause.
15.08.
Hölderlin:
"Drum! So wandle nur wehrlos
Fort durch's Leben und sorge nicht!"
Gut, aber warum stehen dann all diese Stangen durchs Zimmer.
17.08.
Vormittags geweint. Nachmittags gelacht. Abends gekotzt. Nachts?
19.08.
Lektüre: Ludwig Rubiner:
"O Mund, der nun spricht, hinschwingend in durchsichtigen
Stößen über die gewölbten Meere. ..."
Wer soll das aushalten?
Heiner Link München, - 09.04.00 at 20:49:28
Aber natürlich lieber Georg haben wir Dr. Poschardts Text mit der wunderbaren
Verfassungsfeind-Theorie gelesen. Und auch wenn sich die Geschichte wiederholt, stimme ich
dem Summer-Of-Love-82-Vergleich nicht zu, glaube eher an die mittleren 60er Jahre, als dem
Wirtschaftswunder und Konformismus der Nachkriegsära die Öffnung für System- und
Kapitalismuskritik folgte, als der Mainstream die Kraft des Hip entdeckte und sich die
Gesellschaft neu definierte. Und was anderes waren die 90er Jahre, als eine
Nachkriegszeit? Das Wirtschaftswunder der Neuen Märkte, die Neuverteilung der Dritten
Welt, der Konformismus der Freizeitindividualisten, Rebellion als Marketingwerkzeug, die
Faszination fremder Untergrundkulturen - gab es alles damals schon. Für die weissen
Vorstadtkids hatte Be Bop damals die gleiche Dissidenzfunktion wie heute der Hip Hop. Die
Highways damals und der Information Superhighway heute als Symbole für das
Wirtschaftswunder. Usw. Usw. .... so einfach sind die Gleichungen manchmal, so plump
werden sie auch formuliert. Nur diesmal gehören wir zur Kultur der Sieger. Zehn Jahre
haben wir gewartet, dass sich Unmut, Kritik und Widerstand regen, dass sich das Bedürfnis
nach Gemeinsamkeit und Solidarität artikuliert. Ungebremste Wut in L.A., Chiapas und
Seattle; daheim die Einordnung der Dinge in SZ Feuilleton und Le Monde Diplomatique, nicht
zuletzt in Tutzing und Berlin. Ob die Systemkritiker Gummistiefel oder Pradaschläppchen
tragen ist eigentlich ganz egal. Daran wird sich niemand erinnern.
Bildzitate: Angela Davis' Afro. Andreas Baaders Porsche. Ché Guevaras Motorrad.
Popzitate:
"Whoever tells you money is the root of all evil doesn't have any." (Ben
Affleck in "The Boiler Room")
" Everybody isn't an artist. Everybody isn't articulate. So maybe for some
people style was a way of expressing certain things. ... What's important is what
piece of work endures." (Patti Smith auf die Frage nach ihrer Rolle als
Avantgardistin von Ästhetizismen)
Andrian Kreye, München, - 09.04.00 at 21:27:34
das hätt gut ins forum der dreizehn gepasst
Heiner Link ... München, - 09.04.00 at 22:50:32
Wir haben buntes Granulat an der Tankstelle jekooft und uns dann einen runden Ball
gebastelt,der entfernt an eine Frucht erinnerte.Es war kein Pfirsich,sondern kleiner und
sah recht lecker aus.YUMMI.Labiles Phantasma, Hüter des Glücks.
Nika Scheidemandel, Olrik Kleiner, Tina Obladen, Christian Kracht Hamburg, Deutschland, -
10.04.00 at 01:28:10
Edvard Grieg: Streichquartett No. 1 in G-Minor, Op.27. Recorded in St. Georges, Brandon
Hill, Bristol, Chilingirian Quartett. Nichts weiter.
Eckhart Nickel Heidelberg, - 10.04.00 at 17:59:36
Marvin
Georg M. Oswald - 10.04.00 at 23:56:46
Heute wird Sandor Marai hundert.
Heute wäre Sandor Marai hundert geworden.
Heute vor hundert Jahren wurde Sandor Marai geboren.
Heute in hundert Jahren wird wäre Sandor Marai würde
fadenverloren an die Decke starrend
HelK m, - 11.04.00 at 10:32:17
Liebe Pool-Freunde,
ich freue mich schon so auf die Party heute abend, bringe auch
"Knautschgummigesicht" mit (alias Claudia Lackmann aus nachfolgender
Tagebuchnotiz):
Der sinnliche Mund bleibt offen, eine halbe Sekunde zu lang, die leuchtenden
Esther-Schweins Haare wirft sie einen Tick zu theatralisch nach hinten. Sie, das ist
Claudia Lackmann, 26, aus Charlottenburg, vulgo: Old Berlin. Sie will nicht nach Mitte.
Und während sie das sagt, quetscht sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen wie Lucky
Luke. Einen Moment lang guckt sie auch wie ein Cowboy. Knackig und verkniffen. Dann reißt
das Gesicht auf, großäugig und wehrlos plötzlich, wie bei einem Kind. Ständig ändert
diese junge Frau ihren Gesichtsausdruck. Noch bevor der Satz zuende ist, lacht sie schon
wieder. Um gleich danach übergangslos todernst die nächste Frage zu erwarten. Beim Reden
trommelt sie minutenlang ziemlich streng mit den Fingern auf ihren vollen Lippen herum,
als wolle sie einen zum Zuhören ZWINGEN. Das nennt man im Fachjargon autoerotisch. Wie
das Befummeln der eigenen Esther-Schweins-Haare, durch die sie immer wieder fährt, mit
ihren nervösen, wohlgeratenen Fingern.
Also: nicht Berlin Mitte, sondern Charlottenburg. Das ist der Stadtteil mit dem
gleichnamigen Schloß, welches man sich wie Schloß Nymphenburg vorstellen muß. Nur daß
das in Berlin im verkehrsreichsten Teil liegt, mitten auf dem Stachus sozusagen. Das ist
schon endskrass, wie die Münchner sagen. So ein verträumtes Schloß, und dann die
kalten, blöden, unmenschlichen Ausfallstraßen überall, der nie endende Verkehrsinfarkt.
Natürlich ist das Schloß viermal größer, wie alles in Berlin. Steigt man zum Beispiel
am falschen Ende einer Straße aus und schlägt die Hausnummer um von 3 auf 267, kann man
erstmal für den Rest des Tages laufen. Wie gesagt, Charlottenburg. In New Berlin ist das
anders. Da spielt sich alles Wichtige auf einem Quadratkilometer ab. Wie früher im
Belgischen Viertel in Köln, als Köln noch eine Metropole war. Aber Claudia will da nicht
hin, sie hat "Der lange Weg nach Mitte" gelesen, das reicht ihr. "Denn
dann", sagt sie und schiebt den erstaunlich elastischen Gummimund nach vorne, als
müsse sie an einer heißen Suppe kosten, "hätte ich ja keine Wohnung mehr."
Stimmt. Wer umzieht, verliert die bisherige Wohnung. Und die liegt nun einmal in
Charlottenburg, seit Beginn ihres Studiums schon. Das war noch im alten Jahrtausend.
Abitur mit 20, ein Jahr Praktikum bei der UNO, dann jede Menge Semester am
Otto-Suhr-Institut, von Langzeitstudenten liebevoll "das OSI" genannt. Seit Rudi
Dutschkes Zeiten studiert man dort Politologie, ein Fach, das dort erfunden wurde.
Claudias Vater ist ein Ober-Funktionär des DGB und gerade in Riga tätig. Den Rudi hat er
noch gut gekannt. Aber wie das so ist: Die Nachgeborenen übertreffen die Eltern um
Dimensionen. Was macht der Dad eigentlich in Litauen, oder Lettland? Da sind die Frauen
alle so hübsch, nicht wahr? So hochgewachsene Meerjungfrauen. Ob man als DGB-Manager
dafür überhaupt ein Auge hat? Sehr rätselhaft. Auch Claudias beweglicher Comic-Mund
wandert unschlüssig in der unteren Gesichtshälfte herum. Dann dehnt sie die Lippen wie
beim Zähneputzen und stellt einiges klar. Sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit. Über
die allgemeine Menschenrechtsproblematik. Joschka Fischer hat die erste Fassung
gegengelesen. Wer? Ja, genau der! Beeindruckt sinkt der Reporter in die Kissen. Und doch -
man hätte es sich denken können. Diese junge Frau ähnelt nicht nur der jungen Monica
Vitti aus den Neorealismusfilmen, sie spricht auch stets druckreif. Ein Kind jener Elite,
die erst den Westen und dann den Osten beherrscht hat. In zwei, drei Sätzen erklärt sie
die Menschenrechtsproblematik in Fernost. Warum die Chinesen anders ticken als wir und
dennoch dieselben Menschenrechte in Anspruch nehmen dürfen, wenn auch in gänzlich
anderer Weise. Claudia Lackmann schaltet problemlos drei Gänge hoch, generiert Ethnien,
macht ein Denken außerhalb der Sprache deutlich, überwindet Adorno, beerdigt Habermas,
schließt auf zu Fischer. Ihre Hände fliegen hin und her, das hübsche Rundgesicht mit
der erstaunlich hellen Haut und dem erstaunlich dunklen Mund - gewiß DAS Schönheitsideal
in Fernost - ändert dreimal pro Satz den Gesamtausdruck. Plötzlich reißt sie die Augen
auf, schließt sie dann ebenso abrupt, als habe sie der Schlaf übermannt. Diese Frau im
Fernsehen, und die Grünen wären wieder zweistellig. Früher, als es das noch öfter gab,
hätte man gesagt: eine begnadete Rednerin.
Aber nun gut. 'Mitte' soll es nun nicht sein. Aber Charlottenburg? Da kann frau noch nicht
einmal ausgehen. Wir gehen die breite, öde, entseelte Bismarckstraße entlang. Hier
sieht's aus wie in Frankfurt. In Mitte dagegen atmet jeder Stein Geschichte, Aufstände,
Revolutionen, menschliche Bewegung. Claudia sieht es ein. Aber sie studiert am OSI. Die
Uni ist schon jetzt fast eine Stunde Richtung Westen. Da kann sie nicht noch weiter
wegziehen. Und abends ausgehen, mit den diskurslosen Leuten der textfeindlichen
Techno-Szene? Da sei ihre Doktorarbeit vor. Abends ist sie sowieso auf einer internen
DGB-Party, ihren Eltern zuliebe. Also heute. Es gibt zwar längst mehr Aktienbesitzer als
Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland, aber was soll's. Wieder formuliert sie etwas
Druckreifes. Sie lacht, schiebt das Kinn provozierend vor, sagt dann todernst Dinge wie
"Durch das Internet wird die Kommunikation weltweit geistiger", oder "Ralf
Dahrendorf war für mich nicht wichtig an der London School of Economics" - da war
sie nämlich auch - oder "Ich würde sagen, ich möchte gerade keine Beziehung. Das
heißt aber nicht, daß ich für den Rest meines Lebens keine möchte. Ich nehme da eine
Mittelposition ein". Sie atmet heftig ein, beim letzten Satz, und schnauft den Rauch
nach oben weg, als passionierte Raucherin. Auch mit Zigarette fliegen die Hände durch die
Luft. Sie müßte eigentlich eine gute Tänzerin sein. Wenn sie so tanzt wie sie spricht,
müßte es unmöglich sein, ihr nicht alle Aufmerksamkeit zu widmen. Die räumt doch jeden
dance floor ab, die Alte. Mit DER Figur. Und DEM Temperament. Doch bleiben wir bei den
Menschenrechten. Beim DGB und Charlottenburg. Wir sind schließlich heute in Old Berlin.
Also, Claudia steht jeden Morgen um Punkt neun Uhr auf. Dann liest sie acht
Tageszeitungen, kaum Bücher. Denn gleich darauf versinkt sie im Computer, in ihrer
Doktorarbeit. Exakt vier Stunden lang. Kein Zweifel, daß die Arbeit brilliant werden
wird. Kein Zweifel, daß sie glänzende Berufsaussichten haben wird, die Hochbegabte
(natürlich war sie auch in der Studienstiftung des deutschen Volkes). Kein Zweifel, daß
wir sie bald neben oder hinter dem Außenminister durch die Tagesschau werden huschen
sehen, beim Kurzbericht über die Kenia-Visite oder den Auftritt vor der UNHCR in Genf.
Während zur gleichen Zeit in Mitte junge Leute aus Claudias Jahrgang Sperrmüllstühle
und alte Blechlampen die morschen Treppen ihrer frisch ergatterten Behausungen hochtragen
werden. Junge Leute, deren Menschenrechte niemals in Gefahr sind. Um die sich niemand
kümmern muß. Jedenfalls nicht Claudia Lackmann.
Joachim Lottmann - 11.04.00 at 10:59:00
Todays GOLDEN-AGE-Page presents:
SÖREN "SUNNY" KIERKEGAARD (The "Old Dude" from San Clemente)
Good Evening People!
Was ich Euch schon immer sagen wollte: Welche verjüngende Macht habt ihr jungen Leute
doch - nicht die Frische der Morgenluft, nicht des Windes Brausen, nicht des Meeres
Kühle, nicht der Duft des Schwarzen Afganen, nicht dessen Lieblichkeit - nichts auf der
Welt hat diese verjüngende Macht Eurer Texte.
So gehen die Tage dahin, ich stelle sie mir vor, meine Lieblinge in Pool & Loop. Ich
lese Euch, immer und immer wieder. Yeah! Des Nachts kann es mir sogar einfallen, meiner
Liebe zu Euch Luft zu machen. Dann laufe ich auf meiner Veranda auf und ab und blicke
über den Pazific: richtung Asien, Deutschland, Heimat. Dann vergesse ich alles, habe
keine Pläne, keine Berechnungen. Ich weite und stärke meinen Oberkörper durch tiefes
Luftholen, Bewegungen, die ich brauche, um nicht unter dem Systematischen in meinem
Verhalten zu leiden.
My Sweet Lords, auf diese Art, ich muss es Euch gestehen, habe ich bisher nur mich selbst
und das Surfbrett geliebt. Seit ich Euch entdeckt habe, kann ich in vieles gleichzeitig
verliebt sein. Eine zu lieben ist zu wenig! Alle zu lieben ist Oberflächlichkeit! Sich
selbst zu kennen und so viele wie möglich zu lieben, während das Bewusstsein doch das
Ganze umfasst - das ist GENIESSEN, das ist LEBEN, das ist POOL.
I LOVE YOU
Euer Sunny
(and thanks for listening!)
tkla - 11.04.00 at 19:58:42
Tja, äh, das war nun natürlich doch sehr lustig. Ich denke heute schon den ganzen Tag an
einen Klassiker der feministischen Literatur mit dem Titel "Die Scham ist
vorbei". Eben, ja, die Scham ist vorbei, und deshalb schreibe ich jetzt in den Pool
und fühle mich dabei so als stünde ich auf einem verwüsteten Schlachtfeld voll von
Partyleichen. Party? Was für eine Party? Ich kenne keine Poolparty!
Momentaufnahmen des vergangenen Abends:
Elke Naters nach der Lesung zu mir wie in einem Zustand plötzlicher Erleuchtung:
"Das hätten wir nie machen dürfen. Das war der größte Fehler, den wir begehen
konnten".
Elke Naters, Andreas Neumeister, Andrian Kreye, Sven Lager, Joachim Lottmann, Heiner Link
und ich beim Vorlesen: "Äh, Moment, äh, kannst Du mal? Nein ich, äh, nein jetzt
kommt, und also jetzt kommt, wer hat denn den Text jetzt, nein Moment mal" usw.
Die hinreißenden Damen vom Hanser Verlag, die direkt vor uns Vorlesern saßen und - ich
hab's doch genau gesehen! - sich bald entschlossen, das ganze wie ein Theaterstück von
Ionesco zu betrachten oder einen auf den Kopf gestellten Pirandello - "Sieben Autoren
suchen eine Person", den "Mädchenversteher" zum Beispiel. Oder Tom Kummer,
dessen Grußadresse ungelesen im Netz schlummerte, weil der eigens beschaffte IMac
aufgrund technischer Probleme offline blieb.
Der kopfschüttelnde Reinhard Wittmann vom Literaturhaus, der fand, man hätte das ganze
besser organisieren müssen.
Sei's drum.
In Tutzing, bei Billers großer Dichtersause, bin ich so richtig auf den Geschmack
gekommen: Ich mag Veranstaltungen, bei denen nur krudes, kryptisches Zeug geredet wird und
jede konventionelle Erwartung enttäuscht wird. Nicht um einer oberflächlichen
Provokation willen, das wirklich nicht. Sondern weil ich merke, daß diesen
Zusammenkünften eine Intensität inne wohnt, die mich umso mehr begeistert, je weniger
fassbar sie ist.
Später dann unterhielt ich mich mit Gustav Seibt. Gustav Seibt auf der Pool-Party? Ja,
genau, Gustav Seibt. Ist Pool-Leser, von Beginn an. Konnte die Lesung nicht hören, weil
er selbst gelesen hatte - Übersetzungen von Michelangelo-Gedichten, auf Einladung des
Lyrik-Kabinetts in der Staatsbibliothek. Und sagt dann lauter entspannte, lässige Sachen
über Pool.
Und dann noch EisEis, genau der Gangsta, für den er sich ausgibt, fährt dann
noch Heiner "Bodybag" Link heim.
Doch, doch, das war schon alles schwer in Ordnung - auch wenn selbstverständlich niemand
weiß, was es zu bedeuten hat. Aber wer will das schon wissen.
Georg M. Oswald - 12.04.00 at 22:44:09
Also, es war so, daß ich mit Andrea (vergib mir, wenn Du Ursula heißt, oder Schaklin)
geflörtet habe, aber Andrea fand mich nicht so toll, also war da eine andere mit einem
kurzem Rock, so Sechzigerjahrefrisur, mehr weiß ich nimmer. Ich jedenfalls immer wie
immer die alten, betrunkenen Männer sind, so mit antatschen und erweiterten Pupillen und
praktisch parat, ja, und dann kam so ein Typ daher. Man sah gleich, der gehört auch dazu.
Ich mag das ja nicht, ich bin ja mit den Mädels immer ganz gerne für mich. Kam
jedenfalls dieser Typ daher, und ich sagte nur: Helmut, schaff das Teil weg, aber Helmut
schaffte mich hinaus in die dunkle Nacht. Ich kannte mich gar nicht mehr aus, wie immer,
und ich sagte, Helmut, es ist so dunkel, aber Helmut sagte immer (sagte er mir heute
zumindest, und ich bin geneigt ihm zu glauben) es wäre alles in Ordnung, Helmut, sagte
ich, bist du sicher, schließlich muß man im Leben differenzieren, aber Helmut drückte
mich in dieses Auto, ein älteres Modell glaube ich, ich habe dann pflichtgemäß nach
vorne geschaut, am Steuer saß eiseisbaby, und daneben rutschte seiner Freundin der Rock
hinauf, daß ich mir dachte, das Leben ist großartig.
Ich hätte ja die Hände jederzeit um des Fahrers Hals legen können, habe mich dann aber
an Helmuts Schulter gelehnt, weil ich mir dachte, gut, das Leben ist großartig, aber die
Möglichkeiten sind begrenzt. Es liegt an einem selber, die Phantasie galoppieren zu
lassen.
Und dann waren wir plötzlich in Germering, und man rief ständig ins Auto hinein.
Aussteigen hieß es. Heiner! Aussteigen!
Ich wollte aber nicht aussteigen.
Weil ich ein Romantiker bin.
Das verstand man natürlich nicht. Ich habe dann auch gleich mit dem rumänischen
Taxifahrer gerauft. Der wollte mich heimbringen. Helmut ging halbherzig dazwischen,
Helmut, sagte ich, wenn ein Mord fällig ist, dann jetzt, und das verstand er auch
umgehend
und seitdem besitzen wir ein Taxi
Helmut und ich
Heiner Link München, - 12.04.00 at 23:53:37
Lieber Heiner,
es stimmt nicht.
Du hast es versucht, aber den Rumänen getroffen hast du nicht.
Es war schon sehr, sehr nett von ihm, dich trotzdem noch nach Eichenau zu fahren.
Als du mich gestern gefragt hast - vor deinen Kindern - ob das Taxi in meiner Garage
steht, habe ich halt ja gesagt.
Aber da steht es nicht.
Ich habe folgerichtig auch die 'Blutspuren nicht aus den Polstern entfernt'. Ebensowenig,
wie ich 'Ceaucescus Leiche verbuddeln' mußte.
Nein, Heiner. Wir haben kein Taxi. Das ist die Wahrheit. Aber du darfst mich
weiterhin 'Herr Geheimrat' nennen. Darauf kommt es nun nicht mehr an.
HelK m, - 13.04.00 at 12:37:56
1
Von einer Dienstreise kehrte ihr Mann mit eingecremtem Rücken zurück. Zufällig zog sie
sich gleichzeitig mit ihm zur Nacht um und bemerkte das leicht fettige Glänzen auf
Schultern und Kreuz.
"Wird deine Haut jetzt im Winter auch so trocken?" fragte sie. Was er gemurmelt
hatte, wußte sie später nicht mehr.
"Es sind die kleinen Dinge", sagte sie, als alles vorüber war.
2
Genaues hatte ihr Geliebter ihr nie erzählt. Sie hatte ihn auf dem Treppenabsatz
vorgefunden, als sie von einem Abendessen mit Freunden zurückkehrte. Wein hatte sie
getrunken, daran erinnerte sie sich noch, denn daß sie ein Kind erwartete, erfuhr sie
erst, als er schon lange bei ihr eingezogen war.
3
Der Vater lehnt sich zurück. "Auf Euch, auf diese zweite Familie habe ich mich sehr
gefreut", sagt er.
Carmen Samson Berlin, - 14.04.00 at 19:37:27

antje dorn, berlin, - 14.04.00 at 21:41:09