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pool #17 01.10.-07.10.1999

pool #16 / pool #18

 

IT WILL THICKEN AS IT COOLS
The Food Network. Mehrwert: Die schöne, gute Welt. Zu Gast: Harvey Keitel. Präsentiert sein Lieblingsmenü:
SPICY SALMON TARTAR WITH ASIAN PEARS 2 VINEGAR SYRUP
6 ounces salmon fillet, center cut, finely diced
1/2 tablespoon sambal
1 cup diced Asian pear, tossed with lemon juice
1 tablespoon chopped chives
1 tablespoon olive oil
Salt and black pepper to taste
In a chilled bowl, toss everything together. Check for seasoning. Mold
tartar in small "O" rings-2 1/2-inches, or small ramekins. Garnish with syrup and chives.
2 VINEGAR SYRUP
3/4 cup balsamic vinegar
1/4 cup Chinese vinegar
In a non reactive pan, slowly reduce both vinegars by about 70 percent until a syrup consistency is achieved..
KEEP IN MIND IT WILL THICKEN AS IT COOLS.
Suggested Wine: Rosemont, Francis Ford Coppola Vineyard, Chardonnay, 1996

tom kummer food city, usa - 01.10.99 at 09:09:54


1. Pop kennt Idole, die Kunst den Respekt. Ohne jenen, den sich der Künstler Kurt Masur erwarb, um ein seltenes Beispiel zu nennen, sähe unser Land heute vielleicht anders aus. Vermutlich nicht besser.
2. Der Pool ist manchmal zugefroren und die Badenden haben sich Schlittschuhe besorgt, fahren im Kreis. Das Tempo ist hoch, zumindest für jemanden, der mit seinen Leihschuhen am Rand steht und noch überlegt. Dann zieht er sie aber doch an, klar macht er das, und geht auf die Fläche, versucht mitzuhalten. Beim - zugegebenermaßen überflüssigen - Versuch, innen zu überholen, geht ihm eine Kufe weg, und er knallt einem anderen in die Flanke. Mehrere Stürze folgen. Der gesamte Kreisfluß kommt leider zum Stocken, bevor er wieder neu hergestellt wird. Der mit den Leihschuhen übt weiter.
3. C. Kracht, Du bist mir zuvor gekommen? Deine Bücher kenne ich ja leider noch nicht, das werde ich nachholen. Ich wollte aber hier eh mal festgestellt haben, daß Deine Einkaufszettel bisserl schnoddrig wirken. Bestenfalls. Oswald, Naters und Schröter dagegen - zum Beispiel - haben hier immer was angeboten. Aber von mir aus kannst Du gern weiter Namenslisten publizieren.


Ralf Bönt zurück im Baulärm Berlin, - 01.10.99 at 09:43:13

Herr Bönt: sehr schön, Ihr Bild vom Pool als zugefrorener See. Wie kommen Sie auf sowas? Toll auch, wie Sie "am Rand" dastehen, mit Ihren "Leihschuhen", und überlegen. Da habe ich Sie so richtig vor mir, Sie, Ralf Bönt, stehend, am Rand, überlegend. Meine Fragen wären nun: Wie sehen Sie in WIRKLICHKEIT aus? WAS denken Sie, im Einzelnen? Was machen SIE so, ich meine: HAUPTBERUFLICH? Mit besten Grüßen, neugierig,

Moritz von Uslar, München - 01.10.99 at 11:56:59

Lorenz Schröter, 39, Gewerkschaftsmitglied seit 10 Jahren: Sehr geehrter Herr Zwickel,Sie fordern die Rente mit 60 für die priviligierteste Generation, die jemals in Deutschland gelebt hat. Eine Generation die keine Arbeitslosigkeit, keinen Lehrstellenmangel kannte, die beruflich immer höher kam, die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ohne Eigenkapital ihre Immobilien über die Bank finanzierten, eine sorgenlose Generation, die geringere Steuern, Rentenbeiträge etc zahlten als die folgenden. Eine Generation von Hausbesitzern, von denen jeder zweite Haushalt nach Sachwerten Millionär sein dürfte.Es ist vermutlich der natürlichen Arroganz und Macht der heutigen Mittfünfziger geschuldet, dass Sie diese schamlose Ausbeutung der folgenden Generationen fordern. Natürlich ohne das Ihre Generation selbst einen Beitrag leisten soll.Selbst Sie gehen davon aus, dass im Zuge der Rente mit 60 ein bis zwei Millionenarbeitsplätze wegfallen werden, damit natürlich auch die Beiträge zur Rentenkasse. Wer glauben Sie wird das bezahlen? Mit freundlichen Grüssen Lorenz Schröter

schröter - 01.10.99 at 13:23:37

Eine Diskussion, derer ich neulich Zeuge wurde und die sich um das aktuelle Rainald-Goetz-Buch drehte, das sehr dicke Rainald-Goetz-Buch »Abfall für Alle«, - die ging so:


-

-Was will der denn? Was erzählt der da denn, so stundenlang, über Karasek und Reich Ranicky?
-Ist doch scheisslustig! Also, mich interessiert das alles, brennend!
-Dann entschuldige mal, es ist doch bitteschön nicht neu, nicht orginell, jemanden wie Harald Schmidt gut zu finden!
Der Goetz nimmt ja überhaupt jeden sprachlichen Umweg, um eine ganz unoriginelle Meinungá
-Das finde ich ja gerade so toll daran! Die Sprache!
-Die Aufgabe so eines Schriftstellers besteht doch aber darin, vorher auszusortieren, nicht einfach alles, was man sich mal so gedacht und aufgeschrieben hat, tatsächlich auch herauszubringen und zugänglich zu machen und wir sollens dann auch noch l e s e n.
-Doch. Genau das ist die Aufgabe. Eine Aufgabe. Die alte Andy-Warhol-Idee.
-Aber man kann doch nicht wahllos, wie mit einem Schlauch, einfach so Worte in die Welt hinausspritzen.
-Genau, genau das will ich aber lesen!
-Ja, und wo endet das denn dann bitte? Wenn das alle machen? Während man mal schnell beim Abendessen sitzt, wieder einen Gedichtband fertigmachen, so?

-

Auch wenn ich die Heftigkeit, die dahinter steht, nicht ganz teile, - denn bevor ich mich echauffiere, lese ich doch einfach das Buch nicht - die Metapher bzw. den Vergleich mit dem Schlauch, über den muss ich grinsen angesichts des Umfangs von Rainald Goetz' Buch. Und angesichts der sehr vielen Einträge in Pool oder Loop, die sprachlich sehr hübsch sind, die mich aber, schlichterdings, überhaupt nicht ein bisschen interessieren geschweige denn zu einer Entgegnung anregen. Sollen sie ja wahrscheinlich auch gar nicht, weil sie ja auch gar nicht an mich addressiert sein sollen, sondern an á ja, und da stellt sich mir dann eine Frage:
Warum sollen sie das denn eigentlich nicht?
Wozu dann die Klammer, die wir Pool nennen (und immer noch nicht müde sind, mit einem Schwimmbad gleichzusetzen, was mittlerweile irre kitschig wird), wozu einen Pool aus Autoren eben, wenn sich ihre verschiedenen Beiträge inhaltlich nicht aufeinander beziehen?
Ha, - Herr Oswald, Sie höre ich jetzt gerade einflüstern: »Poetologischer Diskurs, poetologischer Diskursá« - das würde ich aber immer noch nicht sagen. Weil ich die Diskussion über die Entstehung von Literatur immer noch müssig finde.
Also, was meine ich dann? An einem aktuellen Beispiel, wirklich rein zufällig von Tom Kummer:
Der benutzt eine prima Sprache, keine Frage. Schafft diese Sprache es aber nun, mich für Harvey Keitels Lieblingsmenü zu interessieren? Nö. Fällt mir eine andere Entgegnung darauf ein, als es nachzukochen, wenn ich kochen würde? Auch: nö. Höchstens Abel Ferraras Lieblingsmenü. Aber das interessiert mich ja noch nicht einmal selber. Ich glaube, der isst auch nicht so gerne.
Wenn es aber Tom Kummers Tag belustigt, bereichert oder durcheinandergebracht hat - schön, dann gehört es sicher in den Pool. Aber: Wenn da nicht steht, w a r u m, erfüllt es nur einen Selbstzweck. Und steht dann da so. Und ermöglicht keine Entgegnung, außer: aha. Ja.
Und dann könnte doch einfach jeder eine eigene Website aufmachen und dort unterbringen, was er für mitteilenswert hält und einfach auf jegliche Reaktion / Dialoge pfeifen. Das ergäbe dann wieder eine lustige Schlauch-Metapher. Der das Internet so schön Vorschub leistet. Nein?
Irgendwann kam hier die interessante Frage auf, warum E-Mails so viel schneller gehen als Pool-Einträge, oft charmanter, authentischer und näher dran sind. Ich glaube: Weil sie sich auch mit dem beschäftigen, an den sie addressiert sind. Weil sie ü b e r h a u p t addressiert sind.
Wenn die Rezeptabfolge nun tatsächlich auch an mich addressiert sein sollte, kann ich leider nur sagen: aha. Vielleicht sollte man das eh öfter sagen: AHA.

rebecca casati münchen, deutschland - 01.10.99 at 15:23:19

Es spricht nichts, aber auch gar nichts gegen Aggression, du Hanswurt, pseudogebildeter Schlaumeier. Jetzt steck ich wieder mittendrin, obwohl ich mir nach dem Melle-Drama, dem langweiligen Maike-Wetzel-Geweine und Oswalds poetologischem Diskurs geschworen hatte einfach über die ganze Kacke, die saugt, hinwegzulesen und Geschichtchen zu schreiben, die hoffentlich etwas bedeuten.
Jetzt geht das aber wieder von vorne los: die kommunikationswütigen Schnatterer sind wieder verstärkt unterwegs. Die Pop-Zyniker auch und die belästigen die Leserschaft dann mit Kochrezepten. Beide langweilen. Wer privatisieren will, tue es bitte in emails, es sei denn es hat irgendeinen Wert für andere und geht über Chatgeplapper hinaus. Wer sich wichtig machen will mit 30 Tonnen Fremdwörtern, Anleitungen zum chicken Leben, öffentlichen Tagebucheinträgen oder ähnlichem hohlen Scheißdreck, der soll doch seine Freunde damit belästigen. Und ihr, die ihr euch da liebt oder ähnliches: trefft euch und steckt euch die Zungen in Körperöffnungen.
Wer, bitte, hat sich zum Beispiel nicht über Oswalds Kumpel Vinzenz gefreut? Oder über Suses NY-Berichterstattung (nur die unselige Kleinschreibung!)? Manchmal vielleicht über Hippies Gedichte?
Ich wollte UNBEDINGT im loop bleiben, weil ich dachte, es sei kein schlechterer Platz, im Gegenteil. Jetzt habe ich aber doch immer weniger Lust den Aufenthalt zu verlängern, weil ich nicht möchte, daß meine Texte zwischen "Ich bin blöd und wer bist du?" und "Wer will mich ficken?" untergehen. Vielleicht sollte ich tatsächlich ins Exil gehen, verschwinden, weil ich die Lösung auch nicht kenne. Ein Ansatz könnte sein: Schreibt doch bitte nicht mehr aus Langeweile. Oder: Nicht Pop-, ROCKliteraten sollt ihr sein!

Britta spricht jetzt mit allen und nur für sich, - 01.10.99 at 17:26:11

JA! Ich bin für Textspritze. Solange sie gut geschrieben ist. Sven sagt: pool ist Textfernsehen. Im Fernsehen schau ich mir auch nicht alles an. pool ist Vielstimmigkeit und nicht Diskussionsforum. Je bunter, desto besser. Auch mit Rezepten und Listen. Ich will kein Gejammer lesen über: Was langweilt. Nicht DARÜBER, sondern: BESSER schreiben.

Elke Naters pool - 01.10.99 at 21:20:09

Diskurs: á*oY=å*zØmª]en&127;s=chªù^ßE6ù33 AÆ®*q*Ú CasØati!!!!
ä*ß* «exa¥chX*çW8}o *Bri¥nÜtta?Å¥¡ öÓám.ÃdÿÒ5*#ÌIy£¨jâ El 6quexqè°ÎùTQ**¿ÿáô*% £¨jâE6xqè°ÎùTQ**??

file for pool TYPE=2 TITLE=pool AUTHOR=Sven Lager - 01.10.99 at 23:47:43

oder:
Der Tag war ein schnelles Flackern von Regen und Sonne. Tatsächlich b r a c h sie manchmal aus den Wolken. Die Bäume stehen noch da, grün und elastisch und der Wind prallt in ihre Kronen, gegen den Stoff der Windjacken.
Rebecca Casati sitzt vor dem Summen des Monitors. Es ist ein Büro mit hellen Lichtelementen und sie bemerkt die Frau nicht, die ihr über den Rücken sieht. Sie schreibt, schnell, ein durchgehendes Geräusch, während die doppelten Glockentürme still stehen in dem plötzlich zärtlichen Licht über der Landschaft. Nachmittag.
Berge stehen weiter hinten. Tropfen vom Regen kommen. Sie werden Linien, Zeichen die auf dem Glas der Fenster erscheinen. Sie beugt sich über das Papier und den Tabak, dann leckt sie. Britta sieht beim ersten Zug tief in das Grau, das sich wie ruheloser Qualm über der Stadt dreht. Kinder spielen vor dem Haus, Fetzen von Worten, die im Rennen verschluckt werden bis ein scharfes Geräusch von Reifen kommt. Sie wartet in der Stille; nicht einmal ein Ticken ist in der Luft.
Erst als sie wieder die Stimmen hört nimmt sie den nächsten Zug und wählt sich wieder ein.
Unbewegt sieht sie aus in dem Licht des Monitors. Und erst als das Telefon klingelt löst sich der Ernst aus Elkes Gesicht. Noch bevor sie weiß wer dran ist lächelt sie. Sie geht weg mit dem Hörer. Rauch, der sich kringelt, daran denke ich, so undeutlich werden ihre Worte hinter den Türen, die sie hinter sich zumacht.
Auf dem Weg nach draußen rieche ich den gelben und schweren Duft der Blumen in der Küche und auf der Straße, mit dem Geld in der Hand für die Zigaretten, bedaure ich plötzlich, daß es nicht Mädchentränen sind, die auf mein Gesicht fallen, salzige, die ich dann im Mundwinkel schmecken kann.

Sven Lager B., - 01.10.99 at 23:48:48

 

Es gibt ein paar Dinge, die sind einfach verboten, da muss man würgen, da geht nichts mehr. Dazu gehören Schurken mit Pferdeschwanz im Fernsehen, Morzarella mit Tomaten und Basilikum, All-you-cant-eat-brunches, `Unsere Einflüsse sind Velvet Underground und Kraftwerk´-Statemants, Frauen mit rotgefärbten Haaren, einem grossen, lustigem Ohrring und Bindestrich-Namen und für mindestens zehn Jahre lang Pop.
Pop, Pop, Pop. Popliteratur, Popfeuilleton, Popkonzept, Pop versus Kunst, Andy-Warhol, Rausch der Oberfläche (Costeau?).... bitte macht das weg.
Seid still, haltet einfach die Klappe. Macht was Ihr wollt, pro und contra Grass, Techno, In und Out-Listen, alles ist möglich, selbst jede Form der verlängerten 80er Jahre mit Sushi und Chablis, weisse Socken-in-Sandalen-Kritik... alles ist irgendwie egal.
Aber bitte, bitte hört mit dem Pop-Zeugs auf. Das wird ja immer grösser und grösser und leerer und leerer. Kann man das nicht irgendwie wegätzen, mit einem grossen Vakuum-Cleaner?
Bitte!!

Lorenz Schröter Berlin, - 02.10.99 at 10:14:17

1
Ein Mann sitzt auf dem Balkon. Er liest Zeitung. Hinter seinem Rücken steht die Tür zur Wohnung offen. Es ist noch hell genug, um zu lesen, denn es ist die Stunde zwischen spätem Nachmittag und frühem Abend. Im Sommer fiel sie nicht auf, im Herbst wird sie konturenreicher.
2
Aus der Tür hinter dem Mann tritt eine Frau. Er dreht sich zu ihr und senkt die Zeitung. Laut sagt die Frau: "Du ahnst ja nicht, wie sehr ich unter dir leide!" Der Mann antwortet. Ruhig. Es sind mehrere Sätze. Die Frau dreht sich um und geht wieder hinein.
3
Der Mann nimmt seine Zeitung auf. Er liest.
4
In der Tür steht die Frau. Sie beugt sich über den Mann, legt die Hand auf seine ihr abgewandte Schulter. "Ich will dir doch nur helfen", sagt die Frau.
5
Der Mann springt auf. "Du faßt mich nicht an!" Das Wort "faßt" sagt er sehr laut. Langsam blättert sich vor ihm die Zeitung zu Boden.
6
Der Mann und die Frau starren sich an. Zwischen ihnen der Stuhl, die sich neu sortierende Zeitung, und die Schwelle zwischen Balkon und dem Innern der Wohnung.

Carmen Samson Berlin, - 02.10.99 at 13:18:34

 

 

Pool of blood. Wir besuchen Jorge im modernsten Gefängnis der Welt: Twin Tower Downtown. Das Gebäude gleicht einem Kongresszentrum für Schwerverbrecher. Japanische Touristen wollen gelegentlich beim Haupteingang einchecken. Drinnen begegnen wir netten Menschen in blauen Blazers. Sie führen dich freundlich in einen Warteraum, der der Lobby von Ramada Inn Hotels ähnlich ist. Sehr nett.
Dann der Ernstfall: Zwei Telefone, dazwischen ein schusssichere Scheibe. Nach drei Minuten erfahren wir von Jorge ein Geheimnis: Kakerlaken liefern Hungerstreikenden Proteine. Die Tagesausbeute mit einem Stück Brot vermaschen und wie eine Riesenpille runterschlucken. Sehr lecker.
Wir erzählen von Harvey Keitels Spicy Salmon Tartar. Grosses Gelächter.
Unter Hungerbedingungen musst du vielleicht einmal aufs Klo, sagt Jorge, aber nie öfters als zweimal. Dein Magen schrumpft zu einem harten Ball zusammen. Der Hunger tut weh. Wenn der Magen völlig zusammengeschrumpft ist, tut der Hunger nicht mehr weh. Grosses Gelächter. Jorge steckt im Hungerstreik. Dritter Tag. Jorge droht die Ausweisung nach El Salvador. Wenig Hoffnung. sViel wichtiger: Die Gliedmassen drücken Hunger aus, wenn das Muskelgewebe sich aufzulösen beginnt. Es ist ein sonderbarer Schmerzgefühl. Das Bedürfnis zu essen wird ein Bedürfnis zu schlingen wie ein Tier. Manchmal träumt Jorge von riesigen Pools voller Schweineblut. Grosses Gelächter.

tom kummer los angeles, usa - 03.10.99 at 01:40:38


Der Anflug ueber die NEW TERRITORIES war neu. Auf den kleinen Inseln, die Hong Kong vorgelagert waren standen jetzt sehr hohe und sehr duenne Hochhaeuser. Da wohnen jetzt bestimmt dicke chinesische Parteifunktionaere 'drin dachte ich kurz, aber das war natuerlich quatsch, denn darin wohnen bestimmt junge chinesische Familien vom Festland und leben den sozialistischen Traum Pekings. Ich mussste sofort an Neuperlach denken, an autofreie Sonntage im Schnee, wo man mit dem Schlitten mitten auf der Stasse fahren konnte, an die "Hallo-Partner-Danke-schoen!"-Verkehrskampagne und andere Versatzstuecke meiner Kindheit im sozialdemokratischem Deutschland.

Die Landung in Chek Lap Kok war auch neu. Der Flughafen auf den ersten Blick eher ein logistisches Meisterwerk als ein architektonisches. Man kommt da an und geht endlos lange Gaenge in riesigen Hallen mit viel, sehr viel BlickFREIHEIT entlang und dann faehrt man auch noch mit einer Untergrundbahn, dabei hat man noch keine einziges Mal den Pass gezeigt, das ist also alles geplant und man laeuft so durch diesen Flughafen mit einem Gefuehl als wuerde man in einer ueberdimensioniertem U-Bahn-Bahnhof der wahnsinnig sauber ist und der den Klang der Schritte mit schwerentflammbarem Teppichboden daempft.

In Lan Kwai Fong sind die langweiligen englischen Daytrader verschwunden. Da sitzten in einer Bar jetzt vollkommen zugedroehnte Jungs und spielen von ihrem Computer Voice-Loops von Wlliam S. Burrows zugedroehntem Gerede und das ist natuerlich wahnsinnig praetentioes, aber mit dem live eingespielten Bass klingt am Ende ganz angenehm monoton einlullend.

Eva Munz Hong Kong, China - 03.10.99 at 05:26:04

Lorenz Schröter Gewerkschaftsmitglied: JA! Und dazu hat sich Herr Eichel, das ist der mit den Zukunftsvisionen, noch ausgedacht, daß wir doch hübsch, ausgerechnet wir Arbeitslosen, die Schulden genau jener Generation (mit ihrem außerordentlichen Wunsch nach Einheit) abbezahlen sollen. Wir sollen jetzt deren Schulden bezahlen, statt in die Bildung unsrer Kinder zu investieren. Denn wenn es denen schon materiell schlechter geht als ihren Eltern, dann sollen sie wenigstens nicht so viel drüber reflektieren.

Derweil - Elementarteilchen! Elementarteilchen! - darf auch die Physik wieder beliebig verbraten werden. Mein höflicher Tip an die Publizisten, die nix davon verstehen: Einen der hundert Teilchenphysiker im Land anrufen und in fünf Minuten klären, was Sache ist. Oder wenigstens: was bestimmt nicht Sache ist. Man läuft dann nicht nur nicht Gefahr, die Relativität einmal mehr mit der Komplementarität zu verwechseln. Nö: Sie müssen dann auch nicht Sätze schreiben mit der Qualität von: "Auch wenn die Blume nicht blöd wär, hätte das Kamel eh gehüpft." Was man auch machen kann: "Sokal hoax" in eine Suchmaschine geben und kurz warten. Aber was solls.

Ralf Bönt - 03.10.99 at 12:14:39




gedämmert
gelesen
gelauscht und geturnt
gedichtet: notiert

KRANK

erklärte Auswirkungen
auf die internationale Gesundheit
seien unwahrscheinlich

Freitag, 1.Oktober 1999, Berlin




rainald goetz berlin, - 03.10.99 at 16:43:45

1
Wer bei der Werkstatt Deutschland dabei sein will, hätte vorher einen Platz reservieren müssen. Das hatte mein Begleiter nicht, und so gehen wir zum Volksfest ans Brandenburger Tor.
2
Davor waren wir auf der Straße gegangen, die mich jetzt im Satzgefüge verwirrt: wir gingen auf Unter den Linden? an den Linden entlang? Jedenfalls: dort. Zeigte mir mein Begleiter die Gebäude, die geflaggt hatten. Heute.

Vielmehr: auf denen keine Flagge wehte. Die Staatsbibliothek zum Beispiel. Laut bundesrepublikanischem Flaggengesetz aber sei sie als öffentliche Institution dazu verpflichtet. Dieses Nichtflaggen sei also eine Provokation, fand mein Begleiter.
3
Ich erzähle ihm nicht, daß ich mich vor langer Zeit einmal im Innenhof der Bibliothek geküßt habe. Das war in einem Sommer gewesen. Der Springbrunnen führte jedenfalls noch Wasser.
4
Im Gedränge am Brandenburger Tor sitzen wir neben einem wachsenden Müllberg an einem Biertisch. Aus den Lautsprechern hört man eine Journalistin dreimal hintereinander sagen: "Und du kommst also aus Weimar." Dann spielen die Lords und die Puhdys. In den Fenstern der DG Bank spiegeln sich die gelben Mützen wider, die die Deutsche Post verteilen läßt. Wir aber beobachten das Treiben der Wolken hinter der Quadriga und die schöne Dame uns gegenüber.
4
Als jemand vom Thüringischen Würstchenstand kommt und den Müll vom Haufen in drei blaue Tüten füllt, gehen wir.
5
Zuhause lese ich in der Zeitung, daß die Stasi die größte Sammlung von Liebesbriefen in der Welt angelegt hat. Meine beste Freundin ruft an und erzählt mir, sie habe sich getrennt.

Carmen Samson Berlin, - 03.10.99 at 20:53:26

Lieber Rainald: "Echinacin Madaus Capsetten", Trockenpresssaft aus Purpursonnenhutkraut. Zur: Steigerung der körpereigenen Abwehr. Yo, Abwehr. Ganz wichtig: zum Lutschen! Nicht die Fläschlein, sondern die Gummidrops kaufen - die schmecken auch gut, die sind zur Zeit mein Freund. Ist das fein, Freund Rainald, nach LANGER ZEIT, etwas zu HÖREN. Der Auftrag lautet nun: hier WEITER reinschreiben. SERVAS!

Moritz von Uslar, München - 04.10.99 at 11:06:49

Am Samstag war ich auf der anderen Seite des `Zauberspiegels´ (E. Schweins). Alle waren da: Gottschalk, B.Becker, Werner Hansch, B. Schrowange, alle die larger than life-Schatten, die so grosse Räume in meinem Langzeitgedächtnis beherrschen, vielleicht 30 Prozent meiner Weltwahrnehmung ausmachen: die Klasse von 1998 mit ihren ranzigen Frisuren, den Kotletten, Dreitagebart und Berliner Odeur: Heino Ferch-Jürgen-Vogel-Jan-Liefers (Benno Führmann fehlte) und die Parellelklasse der Gideon-Burkharts-Kai-Pflaume-Jörg-Pilawa-Oscar-Ortega-Sanchez (154 cm), also die Grinser mit dem Hemdkragen über dem Jackett, und jede Menge dünner Blondinen in metallic-glänzenden Gucci (man trägt doch wieder eher braun-grün) und ja, die meisten waren wesentlich hässlicher als die adretten Kellnerinnen mit ihren weissen Hemden und kurzen schwarzen Röcken.
Erstaunliche Freundschaften gab es bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises in Köln zu bewundern: Karl Dall und Niki Lauda, Michel Friedmann und Hans Meiser.
Grauenhafte Moderation, die schlappen Altherren-Kabarett-Nummern von Jürgen (würg) Busse musste diese menschliche Milbe vom Teleprompter ablesen, Hape Kerkerling sprach hingegen ebenso frei wie Stefan Raab und das private Superarschloch Rudi Carell.
Was wäre, wenn das Essen (Austern, Sushi, Lammschulter, Kaiserschmarrn) vergiftet worden wäre und die Welt, wie wir sie kennen, nicht langsam dahinscheiden würde mit einem `Ach der Millowitsch-Konsalik-Gross ist nun auch tot´, das sanfte an Harr-und Zahnausfall erinnernde Memento mori des Alltags, sondern alle plötzlich wegwären, mit einem einzigen Knall in einer Nacht: Steffi Graf, Harald Schmidt, Günter Jauch, Günter Netzer und man plötzlich ohne den sentimentalen Urmeter in der Wüste stehen würde, ohne die alten Kinderspielzeuge, ohne Michael-Stich-Blinddarm und Karasek-Wurmfortsatz, ohne die Schrammen und Narben, ohne Fred Kogel und Dr. Thoma? So ähnlich müssen sich unsere Grosseltern 45 gefühlt haben oder die Bürger der DDR nach 89.
Aber zum Glück war das Essen nicht vergiftet und wir können auch heute aus dem Fenster schauen und da ist die vertraute Welt wie eh und je: `Guten Abend meine Damen und Herren, hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.´

Lorenz Schröter Berlin, - 04.10.99 at 12:44:59

Seit sieben Wochen ist um unser Haus ein Gerüst gebaut, und an dem Gerüst hängt eine grüne Plane. Unser Haus sieht jetzt aus wie die mißlungene Christo-Interpretation eines Fischreihafens.
Morgens und mittags und nachmittags schimmert dumpfes flaschengrünes Licht durch die Fenster. Egal, ob draußen die Sonne scheint oder nicht. Alles ist dumpf und grün, und niemand in unserem Haus, der noch nicht vor die Tür gegangen ist, weiß, was für Wetter draußen ist, weil seit sieben Wochen ist das Wetter grün.
Gestern abend steht Chiara lange am Fenster, obwohl draußen nichts zu sehen ist. Keine Scheinwerfer, keine Straßenlaternen, keine Werbeschilder.
Geh jetzt ins Bett, sage ich. Da ist nichts, sage ich. Und: Wir gucken noch ein Buch an. Aber sie steht weiter da und rührt sich nicht.
"Lauf, Dunkel, lauf", sagt sie plötzlich, und ich lösche das Licht.



Stefan Beuse Hamburg, - 04.10.99 at 14:44:40

Vielleicht ist all das Hadern um Pool ja auch nur ein großes Mißverständnis, eine sprachliche Ungenauigkeit derer, die, egal ob von innen oder außen, Pool als Schwimmbad sehen, als Ort kindlichen Hedonismus, wogegen ich eigentlich immer davon ausgegangen bin, daß der Titel aus dem Englischen kommt, vom Verb zum Wort, wie in "to pool all views and experiences". Vielleicht ist das aber auch ein etwas zu romantischer Anspruch. Davon einmal abgesehen, halte ich die permanente Selbstfindung des Mediums an sich für reine Energieverschwendung, wie ein Tier, das nervös versucht, sich selbst in den Schwanz zu beißen. Irgendwann wird es erschöpft aufgeben und sich wieder den essentiellen Dingen zuwenden. Der Jagd, dem Genuß und dem Leben.

Andrian Kreye Frankfurt, - 04.10.99 at 18:35:01




schrieb Neues
so der Plan
beim Lesen
Blick auf die Papiere
mit der blauen Schrift drauf

KRANK

2.10.1999, Berlin



rainald goetz, berlin, - 04.10.99 at 19:30:57

Genau so ist es, Andrian. Die pool-/swimmingpool-Verwechslung, die insbesondere von den ersten Kritikern begeistert kolportiert wurde, schien mir immer schon aus einem profunden Missverständnis herzurühren. Du wählst das Bild vom Hund, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Auf pool bezogenen nenne ich das: Autoreferenzialität. Meine einstige Forderung nach einem pD (ich mag das Wort hier gar nicht mehr hinschreiben) wollte genau das Gegenteil von Autoreferenzialität, wurde aber nicht so verstanden. Ich glaube mittlerweile, die von Britta gewählte - unterdessen schon wieder ins Wackeln geratene - Strategie, hier "einfach" Geschichten hineinzuschreiben, ist genau die richtige. Was Frau Casati schreibt - dass ihr der Bezug der Texte aufeinander fehlt - war unter anderem das, was mich dazu gebracht hat, einen pD zu fordern. Nur: so geht das nicht. Wir diskutieren hier doch nicht. Wir stellen doch hier nichts zur Diskussion. Will sagen: Vielleicht sollte man die ganze Sache gelassener angehen und hier Text um Text hineinstellen, ohne sich gross darum zu kümmern, wie sie zu den anderen stehen. Das lässt sich von einem allein ohnehin kaum beeinflussen. Mich jedenfalls fasziniert, dass sich pool - und nicht etwa die einzelnen Autoren - jedem direkten Zugriff, jedem Steuerungsversuch entzieht. Pool ist am besten, wenn es keine Regeln gibt. Und trotzdem wird es immer wieder den einen oder anderen geben, der plötzlich unruhig wird - was vollkommen ok ist. Die anderen dämpfen diese Unruhe, relativieren sie - einfach dadurch, daß sie zur gleichen Zeit mit etwas ganz anderem beschäftigt sind und darüber schreiben.

Georg M. Oswald München, - 04.10.99 at 23:08:46

CONTROVERSAL DIRECTOR HARMONY KORINE EXPLAINS TO LENA CORNER HOW HIS LATEST PROJECT INVOLVES SUFFERING FOR THE SAKE OF ART...

How is your Film FIGHT HARM doing?

I´ve had to put it on hold for a while because I´d gotten so badly injured making it both my ancles were broken and my rips were busted. I´ve been to court seven times but I´ve only gotten three assault and battery charges. But over here it´s three strikes and you are out, you have to serve a mandatory jail sentence, and I dont want to go to jail.

What´s the point of it?

I wanted it to be 90 minutes of complete and utter violence, me making people beat the shit out of me. I wanted it to be one of the funniest movies ever made, like a cross between Buster Keaton and a snuff movie. I was thinking about comedy and humour, and conceptually humour is tragedy, like a guy slipping on a banana skin.

Did you have to psyche yourself up to do it?

I was really out of my mind when I was doing it. I always had to get drunk beforehand.

So how exactly does it work?

The only rules to the film are that no-one is allowed to stop the fight no matter how bad I am getting beaten unless it looks like I might die. The only other rule is that I cannot throw the first punch. The goal is to fight every racial and sexual demographic. I´ve already fought two thick lesbians, one Arab, one Negro, two honkeys and I really got fucked up by a Puerto Rican. I wanted it to be a 90 minute feature to be shown in movie theatres and not to be like an art piece, but each fight only lasts about five minutes until one of us is unconsciousness or unable to move. I´ve done about 15 fights and edited it down so it´s just a stream of continous brutality - but now it´s only 25 minutes long which means that I am going to have to do another 60 fights to complete the feature. I don´t think physically my body can do it. I was trying to invent a new style of tap dancing but I can´t tap dance any more because of my ancles.

Who gave you the worst beating?

A bouncer in New York. It took me forever to get him to fight me and I didn´t think he was going to do it; he was wearing a 300 dollar tuxedo and he just kept laughing at me. Then this girl came out and I was pretending to beat her and the next thing I know he took me by the back of my head and threw me into the middle of the streeet. I got really exited and picked up a brick and started smashing him in the head. There was blood everywhere. I kept making him chase me round this car then I made him really close to me and I went up to pick up a thrash can to throw at his head, and this is where the comedy element would come in, becouse the trash can was chained to the post and so the guy just smashed me in the face. When I came to I was like " Yes, yes, come on, come on". My left leg was on the sidewalk and he jumped on it and broke it in half but I didn´t actually feel it so I got back up and started chasing him. Then the cops came and threw me in the back of the van and took me to the station. They were like asking me my adress and booking me and there was this stream of blood gushing down my head and I looked down and there was this bone sticking out of my ancle.

Was it worth it?

Of course. As far as I regretting anything, the only thing would be if I had done it and failed to get it documented. After each fight the producer would jump out from a hidding place with a waiver and ask the guy that´s just beaten me up to sign it to the movie. It´s weird, absolutely everyone agreed to sign it, even those who pressed charges.

How is New York?

New York sucks, it´s full of Euro-money fuckheads. I don´t like New York, it´s where people come to do business. I don´t socialise much here anymore, I´ve just bought a place by the water in connecticut. It´s really posh. It´s a good place to work and a good place to go fishing.

abgetippt aus i-D, October 1999

Ludger Blanke, Kinogruppe, Berlin - 04.10.99 at 23:59:09

Dein Körper ist kein Mann. Du kannst nicht einfach ausziehen und einen anderen suchen.

Steffi Graf Überholspur - 05.10.99 at 14:00:32

Neue Filme der Kinogruppe:
'Die Blume der Hausfrau' und 'Long Hello and Short Good-bye'
unter teilnehmer/kinogruppe

s.pool*




acht Uhr
Berlin
zum Tag der deutschen Einheit
hat sich Bundespräsident Rau erfreut gezeigt
über die Entwicklung in den neuen Ländern

KRANK

unser Freund und Genosse
Horst Meyer
ist tot:
erschossen am 15.9.1999 in Wien
er kämpfte für ein besseres Leben

Sonntag, 3. Oktober 1999, Berlin



Rainald Goetz - 05.10.99 at 19:50:58

 

1
Keine Schlittschuhläufer auf dem Patriarchenteich. Es ist weder Winter, noch ein schlimmer Maiabend. Sondern Frühherbst. Ich stehe mit meiner Freundin, den Rücken der Kleinen Bronnajastraße zugekehrt, und schaue den Kindern beim Spielen zu.
2
Seit drei Monaten gibt es auf dem Spielplatz bunte Abenteuer-Geräte. Hängenetze, Schaukeln, Kletterstangen. Alles in Primärfarben. Daneben die alten Aufbauten von einst: Wippe, Rutsche, beide bewacht von holzgeschnitzten Eichhörnchen.
3
Wir gehen ohne Unfall durch die Jermolajewski-Gasse nach Hause. Heutzutage fahren in Moskau keine Straßenbahnen mehr. Rollen Köpfe, dann andernorts. Nicht hier.
4
Zu diesem Zweck stehen an jeder Straßenecke Milizionäre. Zwei. Sie geben acht, ob am Patriarchenteich etwas interessantes passieren wird.

Carmen Samson Berlin, - 05.10.99 at 23:11:25

Stille mal wieder. Auftauchen um Luft zu holen. Ich wüßte nicht, wem das schadet. Frau Schmidt hat die ewige Stille schon vor Monaten erreicht. Die Unterseite schwärzlich verfärbt lag sie zehn Tage ganz still in ihrer Wohnung. Sie wollte nie jemanden reinlassen und noch immer kriege ich scheußlich heiße Ohren, wenn ich dran denke, daß wir die Polizei gerufen haben. Daß die Feuerwehrleute schlecht gelaunt und lärmend die Tür aufbrachen. Seit vorgestern steht neben ihrem Namensschild auf dem Briefkasten: Tot, verstorben, in feiner, zittriger Kugelschreiberschrift. Damit jeder es verstehen kann, sind einige filigrane, schwebende Kreuze über den ganzen Briefkasten verteilt. Die silberne Armbanduhr, die ich aus der aufgebrochenen Wohnung gestohlen habe tickt ganz, ganz leise.

Britta Hamburg, mein Deutschland - 06.10.99 at 12:50:15

Schön leuchtet der Kanal. Oktobersonne, gelbes Metall, das auf dem Wasser schaukelt. Der graue Block des Urbankrankenhauses gegenüber. Zwei Männer in Bademänteln gehen davor, kleiner als die Blätter der Weide über mir. Mit den Händen in den Taschen. Sie haben Hosen an darunter und sehen auf den Boden. Ein Schwan nähert sich. Er schwimmt schräg, sieht mich mit dem linken Auge an, dann dreht er und überprüft seinen Eindruck mit dem Anderen.
- Was ist, wird es jetzt ein Buch?-
Ich betrachte einen Moment lang sein Gefieder. Moonboots, denke ich.
- Nein, wir haben es schon oft überlegt, es geht nicht. Nur weil man es dann im Bett lesen kann, nein.-
- Aber Rainald Goetz hat es doch auch gemacht, oder?-
- Ja. Aber da ist ein Plan. Bei uns ist es nur eine Versuchung. Etwas in den Händen zu halten, auf dem pool draufsteht. Mehr nicht.-
Auf dem Schiff gegenüber stehen zwei Männer und ziehen an einem Seil. Sie rufen sich etwas zu.
- Und das mit dem E-Book?-
Er hat sich schon von mir abgewandt und hält seinen Kopf in die Sonne.
- Ja, das muss ich allen auch noch mal sagen. Passiert ja so viel gerade. Und wegen dem Buch, da hatten wir eine viel bessere Idee...-
Aber er schwimmt wieder raus, sieht nicht einmal mehr die Zigarette, die ich hinter ihm her schnippe. Die Augen geschlossen lässt er sich treiben im Flinkern der durchsichtigen Mittagssonne.

S. Lager Berlin, - 06.10.99 at 13:47:43

Ein so schlüssiges Ensemble habe ich wirklich länger nicht mehr gesehen. Beim Einparken steht vor mir: Ein silberner Opel Vectra mit Gothaer Kennzeichen und drei Aufklebern: "Kann denn Leistung Sünde sein", "Ich nix verstehn...Ich sein Deutscher", "Sponsored by Sozialamt". Leider war der stolze Halter des Fahrzeugs nicht in der Nähe, ich hätte ihn an der Rosette auf der Stirn bestimmt sofort erkannt.

Georg M. Oswald - 06.10.99 at 16:34:28




ich bins
der Text, Leute
kommt her und sagt hallo
wie gehts?
und folgt der Stimme
in die Kammer links von hier
schon ziemlich spastisch

KRANK

es pocht und bumpert
ah, ein Herz, verstehe
schön und gut, aber -

ich höre und
atme die Worte

Tag, Datum, Jahr




Rainald Goetz, Berlin, - 06.10.99 at 16:48:31


1
Ab einem bestimmten Alkoholpegel oder einer gewissen Fieberhitze, auch in Zeiten großer Trauer, kann es geschehen, daß ich nachts in meinem Bett schwebe. Meine linke Körperhälfte ist dann eine lange Linie, deren Kontakt zur Matratze nur eine Phantasie zu meiner Beruhigung ist. Das rechte Bein angewinkelt, spüre ich die Leere in meinem Kopf. Er ist wie ein Pingpongball auf einer Wasserfontäne, die ihn mit stetigem, sanften Druck auf einer Höhe hält.
2
Es ist schwierig, mich aus diesem Schweben zu lösen. Komme ich auf die vom Schlaf geschwollenen Füße, nimmt mich die Helligkeit in meinem Zimmer wunder. Der Mond, der an sich schon hinter dem Dach verschwunden ist, findet doch einen Weg, mich mit seinen Strahlen heimzusuchen.
3
Ich gehe an der halbleeren Weinflasche vorbei in die Küche, um mir ein Glas Wasser einzugießen. Ohne Licht.
4
Wenn es gut geht, dann kann ich nach einigen Seiten Lektüre die Lampe ausschalten und in den Schlaf sacken. Ansonsten schwebe ich über den Blättern weiter, bis der Morgen das Wasser abdreht und das Licht zu mir hineinschleicht.

Carmen Samson Berlin, - 06.10.99 at 22:40:17

Zu den wichtigsten Ritualen auf Prominentenparties gehört der Austausch von sogenannten Track Records zur Bestimmung des Nutzwertes einer Unterhaltung. Heute Abend beim Empfang für den Kampf gegen die Tuberkulose in Südafrika, der im Ballsaal des Puck Building stattfindet, sind vor allem die Gebiete Altruismus und Krisengebiete gefragt. Eingeleitet wird dieser Austausch von einem neutralen Vermittler, der beide Gesprächspartner beim Namen kennen sollte. "This is Andrian. He just came in from Rwanda. This is Antonia, she's going to Indonesia on Monday."
Erlaubter Alternativ-Bonus: die erotische Anziehungskraft, die auch keiner Vorstellung bedarf. Sagt der Tuberkuloseforscher: "This is my card, if you're ever doing something on TB. But we should have lunch anyway."
Größte Sünde: Langweile. Gastredner haben sich deswegen kurz zu halten. Länger als zehn Minuten dürfen nur Staatsoberhäupter und Nobelpreisträger sprechen. David Dinkins erinnert an die Zeit, als er als New Yorker Bürgermeister gegen die Apartheid kämpfte und leitet somit elegant auf den Star des Abends, Erzbischof Desmond Tutu, über. Der erzählt einen Desmond-Tutu-Witz. Wie ihn Petrus von der Himmelspforte in die Hölle schickt und tags darauf der Satan entnervt bei Petrus anklopft. Leider scheppert der Lautsprecher, sodaß niemand die Pointe versteht.

Andrian Kreye New York, - 07.10.99 at 15:27:53


Pallasstraße: Unter dem Sozialpallast, die Sonne scheint. Ein schöner Tag. Ich stehe mit zwei Einkaufstüten und warte auf die Kinder, die zusehen, wie türkische Frauen frisieren. Die Kaugummiautomaten sind hier in einer Höhe angebracht, daß Einjährige sie erreichen können. Selbst Luzie muß in die Knie gehen. Neben mir fällt eine glühende Kippe auf den Boden. Da schmeisst tatsächlich Einer brennende Zigaretten aus dem Fenster. Die hätte mir genausogut auf den Kopf fallen können. Oder den Kindern oder einer frisch frisierten Türkin. ASOZIAL. Es gibt Tage, da breche ich wegen sowas in Tränen aus. Heute ist glücklicherweise nicht so ein Tag. Mir fällt ein, wie ich auf dem Balkon von der Wiensowski stand und meine brennenden Kippen mit heimlichen Vergnügen vom vierten Stock auf die Straße schmiss, weil es keinen Aschenbecher gab und ich meine Kippe weder auf dem Boden austreten, noch in die prächtigen Blumenkästen stecken wollte. Aber das war in Charlottenburg, in der Goethestraße. Nie im Leben würde ich am hellichten Tag eine brennende Kippe von meinem Balkon aus auf die Pallasstraße schmeissen. Und nicht nur, weil ich tags nicht rauche. Hier gibt es schon genug Elend.

Elke Naters Berlin, Schöneberg - 07.10.99 at 15:52:47




he looked
at me directly
and said firmly: no
more poetry

krank

in front of everyone
gathered around Paul's desk

5.10.99, Berlin




Rainald Goetz - 07.10.99 at 15:56:24


Heute morgen in vollständiger Ruhe aufgewacht. Durchgeatmet. Gleich darauf, als ob sie an meinen Herzton gekoppelt sind, kommen meine beiden Töchter herein, jede zwei Kuscheltiere im Arm. Ich soll mir jeweils eines aussuchen, als sie ins Bett klettern. Ich nehme den Bär der einen und den Tiger anderen, in beiden Fällen das Lieblingstier des Kindes. Ich kriege die gewünschten Tiere, was mich wundert und rührt. Nach ein paar Minuten wollen beide tauschen und ich habe jetzt die Maus und den anderen Bären. Beim Aufstehen der Blick auf die Wiese. Es gibt wohl keinen, dem eine Wiese als solche auf die Nerven geht. Höchstens als Abwesenheit der Stadt, was neurotisch ist, aber dagegen ist auch nichts prinzipielles zu sagen. Man mag allgemein Wiesen. Wiesen sind okay, aber nicht gleich eine Frage von Mehrheiten. Urban gedacht.

Extremismus.

Die Kunst ist der legitime Ort für Extremismus, vielleicht der einzige. Deshalb verträgt sie sich nicht mit der Politik, was sie auch nicht muß oder soll.

Vor einer Woche meine Pornografie Berlins in einem Hotelzimmer zu Ende geschrieben, wo ich fünf Tage lang die Zigaretten an der Herdplatte anmachte. Jetzt der erste freie Blick auf Zeit seit Jahren. Durchatmen. Das letzte Jelinek-Interview erinnert. Ich kucke nicht so viel Fernsehen, ich lebe unter sehr vielen Menschen. Vielleicht daher die Abneigung gegen die Ich-Verleugnung.

Wer will ein Ei zum Frühstück, fragt Manni aus der Küche.
Wir schreien zu dritt: Ii-iich

Ich sollte noch bleiben.


Ralf Bönt Spotendorf, - 07.10.99 at 16:16:07


So kalt, wie man von drinnen denkt, ist es draussen gar nicht.

elke naters berlin, - 07.10.99 at 17:33:31

Liebe Elke, das ist unverantwortlich. Es ist viel schlimmer. Der Himmel ist vielleicht blau, aber die Kälte beisst hart in die Nase. Ich bin schlimm krank, weil ich so dachte wie Du. Und habe gerade meine unschuldige Zimmerkollegin Yvonne angesteckt.

rebecca casati münchen, deutschland - 07.10.99 at 18:36:19


Ich war heute an einem Platz, wo die Penner anscheinend LKWweise abgeladen
werden. Ich würde gern behaupten, daß alles ganz anders war, aber die
Wahrheit ist: es war ekelhaft. Verschissen, stinkend, saufend, pöbelnd lagen
sie durcheinander wie Kraut und Rüben. Nur einer, der stand. Stand da so mit
einem Pappschild in der Hand:
Bitte um Almosen
Nehme jede Arbeit an
Sie können mich auch mieten
Drunter noch winzig klein: HIV negativ
Na, das ist ja was, dachte ich, seinen Vorteil, mit dem er werben könnte,
schreibt er so klein hin, daß man ganz nah hingehen und sogar seine Brille
aufsetzen muß, falls man eine braucht. Mein Bargeld reichte leider nicht, um
ihn bei meiner verhassten Nachbarin abzusetzen, deshalb habe ich ihm nach
zähen Verhandlungen das Pappschild für satte 3,50 DM abgekauft. Für meine
restlichen 1, 60 DM habe ich mir dann noch eine Rosinenschnecke geleistet und
verbringe den Abend jetzt doch zuhause.

von Britta aus Hamburg, via mail - 07.10.99 at 21:27:57

Neben Alkohol und anderen Drogen, gibt es noch eine Möglichkeit, sich zu dematerialisieren. Diese Möglichkeit heißt: DROHNE. Eine Drohne ist, wenn Gitarre und Vertsärker selbst spielen und den Menschen nur noch als Zuhörer brauchen. Denn was keiner hört, klingt ja auch nicht. Am besten macht man es im Liegen und mit geschlossenen Augen. Es dauert ein bißchen, aber dann schaffen die Schallwellen es, in den ganzen Körper einzudringen und durch dauernde Schwingung die Verbindung zwischen den Atomen anzuweichen. Es ist möglich, daß sich die Beine wie ein Gummi dehnen und die Füße deshalb nur zwei kleine Punkte am Horizont sind. Halt! Die Augen sind zu, aber von innen ist es so. Es kann aber auch sein, daß man zu einer Gaswolke wird, körperlos. Die Hand, die nicht da ist, sinkt durch den Bauch auf den Boden, den sie nicht fühlt. Oder vielleicht dehnt sich das Gehirn auch ins Unendliche, wie das Universum. Das Universum wiederum sieht aus ein Fleischwurstring, das hat mir mal jemand erklärt. So gesehen ist der Vergleich ja nun nicht so weit hergeholt. Wenn die Drohne dann abebbt, zieht sich die Fleischwurst im Kopf wieder auf gewohnte Größe zusammen und aus dem pulsierenden Amöbenleib wird wieder der vertraute Körper, auch meine Füße sehe ich wieder und ich könnte mir wrklich mal wieder die Fußnägel lackieren.

britta, poolgott s.: ich wollte das andere eigentlich im loop haben, aber nun sei's wie's is. Hamburg, Deutschland - 07.10.99 at 21:33:28

Unter der Spüle ist eine Assel, oder eine Maus. Nein, die Maus, die ich nie wirklich fangen wollte, wurde von der Nachbarin erschlagen. Die Maus konnte zwischen den Decken der alten Wohnungen hin- und herlaufen, sie hatte eine Etage für sich. Sie war sehr klein und so schnell, daß man dachte es wäre eine Täuschung gewesen, ein winziger Schatten, der vielleicht nur ein Augenschlag war.
Die Assel ist an sich nicht ekelig.
- Frierst du?- frage ich sie. Sie orientiert sich an der Wand, kommt aber wieder zurück an die Stelle, an der ich sie sehen kann.
- Unten, da ist der Gehweg, der Fahrradweg, der Parkstreifen und die Straße und ich entscheide mich jedesmal für die geparkten Autos. Ich rauche sie ganz runter, beschleunige sie, dann zerspringt die Glut auf dem Lack. Wie ein kleines Feuerwerk. -
Was macht sie da? Rennt nur geschäftig hin und her. Es liegt es daran, daß ich ihr nicht in die Augen sehen kann, der Blickkontakt fehlt. Sonst würde sie mir vielleicht antworten.
- Weisst du, ich würde gerne Berlin so sehen wie Andrian New York sieht. Nachdem er lange weg war. Den ethnologischen Blick für das Gewohnte. Für das Private, wie relativ es ist. -
Ich liege auf dem Bauch. Gedämpft spüre ich die neue Kälte durch das Holz. Ich schließe die Augen, rieche eine Wiese: sorglos.
- Den mageren, würzigen Geruch einer Wiese, vermisst du ihn nicht?-
Sie läuft vorbei an meinem Kopf und entscheidet sich am Mülleimer für einen Krümel vom Kuchen. In ihren Armen ein gelber, riesiger Brocken, der übriggeblieben ist vom Nachmittag.

Sven L. Berlin, - 07.10.99 at 23:02:04