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pool #15 17.09.-23.09.1999

pool #14 / pool #16

 

Midnight Melle! Aspera! Danke! Das zuerst. Und jetzt:

1
Als ich nachhause komme, riecht es im Hof nach verbranntem Gummi. Der Ärmste, denke ich. Nicht schon wieder.
Seit zwei Monaten haben wir einen neuen Mieter im Vorderhaus. Er lebt in Familienverhältnissen, die nicht ganz durchschaubar sind und die er selbst als kompliziert bezeichnet. Jedenfalls wohnt gelegentlich sein Sohn bei ihm. Der ist anderthalb.
2
Das Fahrrad des Mannes vom Vorderhaus steht im Hof immer an ein Metallgitter angekettet. Ich weiß, daß es seines ist, weil es sehr elegant aussieht und hinten ein Kindersitz angebracht ist. Vor ein paar Tagen hatte sich das Fahrrad verändert. Der Sattel war weg, der Hinterreifen platt, und dicke Tropfen klebten überall an den Metallstangen. Sie sahen aus wie Teer.
3
Am nächsten Morgen lag ein Zettel im Postkasten. "Betrifft Fahrradbrand" stand darauf, und ehe ich weiterlas, mußte ich über die Selbstverständlichkeit dieses Begriffs nachdenken. Waldbrände, Hausbrände. Fahrradbrände? Es wird wohl seine Richtigkeit haben, dachte ich und las weiter.
4
Als ich oben ankomme, merke ich, daß der Gestank vom S-Bahnhof kommt. Erleichtert schließe ich das Badezimmerfenster.

Carmen Samson Berlin, - 17.09.99 at 13:18:10

Die Stadt riecht nach Fisch, zart, Duft der zurückweichenden Kühle der Nacht. Ich denke an die Körper der Tiere, die aus dem Meer geholt an den Tag diesen eigenartigen Geruch haben, ein wenig muffig, Leben, gelatinen. Mit dem Fahrrad durch den Frühverkehr, an den Schülern vorbei, die in Reihen über die ganze Breite des Bürgersteigs gehen, in die kleineren Strassen, deren Himmel kaum noch durch die Baumkronen zu sehen ist, der Lärm zurückweicht; in denen die kühle Haut der Nacht noch ist. Ich denke an ein Mädchen, das mit dem Rad zu mir gekommen ist, die ich in der Tür umarme, ihren Duft, die Kühle, die sie auf ihrem Weg eingefangen hat, der Duft von Gras und Metall.

Mein Vater ging mit mir zu dem schmalen Fluß die Reussen heraufholen, Drahtkörbe, in denen sich die Aale verfangen hatten, angezogen von einem baldriangetränkten Lappen. Die Sonne ging auf und das Wasser verdampfte auf den Feldern. Die Bäume entlang des Ufers machten aus dem Wasser eine schattige Allee, auf der entlang wir mit dem schmalen langen Kahn fuhren. Mit einer Stange hob er sie rauf in ihren Körben, später nagelte er die Aale an einen Baum, um ihnen besser die Haut abziehen zu können.

Er ist schon lange tot. Er hatte auch einen Geruch, natürlich, wegen dem ich alte Männer mag. Er roch ein wenig nach Tabak, mehr aber noch nach dem warmen Duft der Kleider, die die Gerüche von den Feldern einfangen hatten und sich jetzt vermischten mit dem leichten Muff des Gebrauchten, des Körpers, der in sie hineingeatmet hat.

So langsam der Sommer geht, heute erwärmt er noch einmal die laue Luft der Stadt mit seiner Sonne, bis zur Geruchslosigkeit, leer, daß ich vorgehen muß zu dem Türken an der Ecke, mich über das Obst beugen, über den schwachen Duft der Pflaumen, die bleiche Süsse der Honigmelonen und der Äpfel, die aus Neuseeland kommen.

Sven Lager Berlin, - 17.09.99 at 14:22:34

Lieber Thomas Melle,
Exhibitionismus und Kompensation sei unabdingbar für Literatur? Art is not a mirror, its a hammer (D. Bowie)? Fehlt doch nicht was? Genau, der Sprung zum Leser. Wir sind ja keine Säufer, die ihrer Bierflasche was erzählen. Literatur ist Dienstleistung.

Lieber Ralf Bönt,
ich will nicht in einen Germanistikgrundkurs geraten und über Form (gähn) und Inhalt (doppelgähn) diskutieren. Und darauf läuft die Kritik an Popliteratur hinaus. Es ist eine Form, die sich gewaltiger oder banalen Dingen angenommen hat.
Macht, hat der siebenfache italienische Ministerpäsident Andreotti gesagt, Macht korrumpiert den, der sie nicht hat.

Liebe Carmen Samson,
warum jemand schreibt? Mit fünf habe ich Geschichten erzählt, mit sechs wurde ich immer in Religion dran genommen, weil ich mir die Geschichten aus der Bibel merken konnte. Mit zwölf habe ich Gedichte zu Klassen-internen Boxkämpfen verfaßt. In der Schule war ich nur gut in Geschichte, weil da Geschichten drin sind. Ich werde depressiv, wenn ich nicht schreibe. Alles andere gilt nicht. Wenn die Geschichten alle sind, hört die Welt auf.
Ich glaube, es gibt in uns ein Bedürfnis nach Geschichten, wir wollen immer wieder den Gilgamesch-Epos durchdeklinieren. Bruce Chatwin meint, unsere Vorfahren hätten, als sie in den Eingängen der Höhlen um ihr Feuer saßen, die Angst vor den realen Ungeheuer, die Höhlenlöwen, schlafenden Bären im Hintergrund mit Geschichten über Monster, Drachen, schwarze Männer zu bewältigen versucht und diese Geschichten tragen wir immer noch in unserem Stammhirn, sie wären die DNA unserer Zivilisation. Aber ich glaube, ich habe das schon mal erzählt. Und jeder, der Geschichten, gute Geschichten erzählt, spricht von seiner Angst. Man muß nur mal den Innenarchitektur-Bestseller Ein ganzer Kerl von T. Wolfe lesen, -oder Fegefeuer der Eitelkeiten, dann weiss man, welche grauenhafte Angst der Mann hat, durch den brüchigen, sozialen Boden zu fallen wie seine Helden. Christian Kracht ist deshalb gut, weil er soviel Angst hat. Carmen, was ist Deine Angst?

Lorenz Schröter Berlin, - 17.09.99 at 17:48:57

 

together again like never before: swissair 102. sitz 15 d. mein nachbar,
manix-typ aus san diego, erzaehlt von einem scharfen schlitten, der zuhause
in seiner garage sitzt.
wie nennst du ihn?
was?
so ein cooler schlitten braucht doch einen namen.
pause.
ich nenne ihn vielleicht "fuck truck", sagt manix ueber schottland. oder
"killers kajak", ha, ha, ha.
dann lange pause.
was sind sie eigentlich von beruf, fragt manix ueber groenland.
poolboy. mehr faellt mir gerade nicht ein. henry lutscht spruengli-kugeln.
dann sanfte landung in los angeles.

Rückblende. Vorletzter Tag in der alten Welt. Nina kniet auf einer
Alpenwiese bei Wengen. Vor ihr: Ein Enzian. Sie sagt, sie pflücke keine
Blumen mehr. Blumen pflücken, Stengel brechen, das hiesse Handeln, und sie
habe alles Handeln hinter ihr gelassen. yeah!

Letzte Wanderung. Eigergletscher. Eine Ahnung von echter Grösse.
cK, unsere Schweiz bedeckt 41 287.89 km2. Eine kluge Grenzpolitik unserer
Vorfahren hat Helvetia an vielen Flussübergängen einen Brückenkopf am
Gegenufer gesichert. Viele Passübergänge im Süden der jenseitigen Abhänge
gehoeren noch zur Schweiz, very smart. Wie die Gletscherzungen, very sexy.
(hallo pipilotti) Der Gletscherzunge entströmt eine milchig-truebe
Wassermasse aka Gletschermilch. yeah!
Dort endete vorgestern unsere Europa-Reise.

Gestern. LAX: Henry lutscht Sprüngli. Letzte Kugel im Taxi. Dann endlich:
Zuhause, Schimmer von Glückseligkeit, Heimweh nach den Dingen der Natur,
friedlich im Smog dämmerndes Downtown, Erdrutsche in den San Gabriels. Etwas
später: Erinnerungen (Berlin. thanx Sven, Elke, Matthias) Sind wir vielleicht
auf dem Weg in den Neo-Romantizismus? Ein Berg von Post kündet Filmpremieren
an. Darunter:"Elmo in Grouchland - The Good, The Bad and The Stinky"
Henrys erstes Kinoerlebnis, yeah.

gleicher abend, tv-dinner, brasilianische drinks. ploetzlich:
telefon von volker engelchen, arbeitet für emmerich, gilt als
special-effekt-wunderknabe. aber eigentlich möchte er lieber eine Blume sein.
und manchmal liesst er pool. wie bitte? pool in l.a.? engel mag - was sonst
- cK, faserland, uslar, elke. verschlingt er alle. und kummer, manchmal,
ha,ha,ha.
aber wer ist dieses engelchen ueberhaupt?
talk to us, engel. schreib in loop. erzaehl von den geheimnissen der schoenen
guten welt. bitte melde dich!

Und dann? Mitternacht:
This is the NBC/CBS/ABC breaking news. Our top story tonight: Hurricane
Oswald. Reporting live from the scene of the storm, here is anchorman
Tom/Dan/Peter: "Good Evening. I am standing here dripping wet, my hair all
mussed, talking really loud because I am not sure how many of you can hear me
over this hurricane. As you can see behind me, waves up to 100 feet high are
threatening to wipe this little pool-community right off the map. Winds of
more than 150 miles per hour are knocking down trees, buildings and human
beings everywhere I look .....therefore we begin our coverage tonight with a
question: WHAT ARE WE DOING HERE?
tkla, 17.9.99

Tom Kummer, Los Angeles via mail 17.09.99 at 20:04:23

  1. Zu Oswalds Artikel in der SZ von gestern: Ganz versteh ich nicht, was Du jetzt anstrebst, Georg. Du wirfst Maike Wetzel vor, hier eine Gewinnerstehparty veranstaltet zu haben, meine Vorstösse in diese Richtung interessierten Dich aber explizit nicht. Möchtest Du eine poetologische Standortdebatte unserer Generation, also ein substantielles Gespräch, das vor lauter Goethe, Fräuleins, Pop (eine Form!!), Internet und "Neuen Restos in Berlin" nicht geführt wird, oder möchtest auch Du auch hier weiter über "Literatur im Internet" reden?
2. Sagt der Fußballreporter beim Saisonauftakt zu Dr. Niebaum (Präsident von Borussia Dortmund): Wir alle wünschen Ihnen den sportlichen Erfolg, den sie anstreben, vor allem aber natürlich auch den finanziellen.
3. Alle Damen aufgepaßt: Der Titel des Tip in Berlin zeigt einen vollständig unbekleideten Herrn. Das ist doch schön.


Ralf Bönt - 18.09.99 at 09:25:35

Ralf, ich habe Maike Wetzel in meinem SZ-Artikel nicht erwähnt und ich werfe ihr auch nichts vor. Alles, was ich über sie geschrieben habe, kannst Du hier im pool 14 lesen, ich muss es deshalb nicht wiederholen. Meine Forderung nach einer "poetologischen Debatte" bezog sich nicht auf unsere Generation, was immer das sein soll, sondern auf pool. Ich will auch nicht über Literatur und Internet schwätzen, ich will lediglich herausfinden, worin der LITERARISCHE Mehrwert eines solchen Forums liegen könnte. Ich weiss es auch nicht besser als irgendwer sonst (ausser Melle natürlich, der mit seiner Einbruchsaktion das bisher Interessanteste in pool angestellt hat). Die Tatsache allerdings, dass allein mein Anliegen schon als Zumutung empfunden wird, lässt mich überlegen, ob wir uns hier nicht besser ausschliesslich über die Farben der Saison unterhalten sollten.

Georg M. Oswald München, Deutschland - 18.09.99 at 10:56:48

Ah, Tom Kummer. Endlich. Ein Schweizer. Vielen Dank, mein lieber.

Christian Kracht Vientiane, Laos - 18.09.99 at 11:35:45

Artikel ist jetzt im Pressespiegel.
(Search: Maike Wetzel/Not found)

poolgeist* geht auf den markt, sich weißwürste kaufen im regen, -in Berlin - 18.09.99 at 11:36:04

1. Sie finden sich toll, weil sie dabei sind und mehr fällt ihnen dazu nicht ein. Benjamin Lebert gehört nicht zu meiner Generation. Webtips sind überflüssig. Der Ton ist schon wieder im Eimer.
2. Ohne Beschränkung keine Form, ohne Form keine Kunst, ohne Kunst keine Literatur. Deshalb ist es ein Forum.
3. Eben im Supermarkt ist vor mir einer an der Obstwaage. Er legt zwei einzelne Bananen auf die Waage, drückt die "1" für Bananen, zieht den Aufkleber aus dem Schlitz und klebt sie auf eine der Bananen. Als er sich umdreht sage ich aus einem Impuls heraus: Du lebst wohl alleine. Er antwortet: Genau. Dann dreht er ab, und ich fange mit dem Wiegen an. Eine viertel Stunde später treffen wir uns an der Kasse wieder. Ich bin vor ihm dran, aber bis ich alles verstaut habe, ist auch er fertig. Ein paar Schritte vor mir, hält er mir beim Rausgehen die Tür auf. Auf dem Bürgersteig sage ich: Tschüß. Und er: Tschüß.



Ralf Bönt - 18.09.99 at 14:04:36

Ja, allen Artikel ist eins gemeinsam, sie reden viel über pool und sagen gleich dazu: naja, das Ganze ist ja so lala, sogar Oswald schreibt: 'Als öffentlich betriebene Sozialstudie, als Feldversuch mit Dichtern, halte ich "pool" aber nach wie vor für interessant.' Als Teilnehmer solltest du es besser wissen, aber du hast ja schon viel Richtigeres und sehr schöne Sachen hier geschrieben, im pool. Der Grundgedanke aber ist wahr und da du es in der Zeitung geschrieben hast will ich dich nicht rügen, denn Wörter wie 'Sozialstudie' oder 'Feldversuch mit Dichtern' gehören dem Feuilleton und nicht in den pool.
Wir wollen etwas erforschen, in der Tat. In der Tat wollen wir es erforschen.
Darum ist ein 'poetologischer Diskurs' auch schwierig, der nicht konkret ist, weil er nicht erforscht, sondern nur darüber redet. Was hier passiert, im pool und vor allem im loop, das gehtschon längst über diesen Diskurs hinaus, weit hinaus. Der loop ist darin noch konsequenter, es gibt nichts zu verlieren und jeder muß sich beweisen, die Geschichten und Gedanken müssen überzeugen. Und sie tun es.
Ich möchte dir die Zuneigung geben, die du brauchst Thomas Melle: Du bist bekloppt, ichbezogen zum Erbrechen, ein dummer Spießer im Anarchistengewand, völlig behaart und riechst aus dem Mund. Und du hast verdammt oft recht. Danke für die sofort eingetippte Klarsicht, die fast jedem Artikel fehlt: Es geht nicht darum, daß es etwas schon einmal gab. Gabs doch schon. Tenor jeder Kritik. Das große Avantgarde-Missverständnis. Hilflosigkeit.
Auch gegenüber dem Privileg das letzte Wort zu haben. Weswegen wir pool auch erfunden haben: Gegenöffentlichkeit. Das ist ein Diskurs. Nur daß er auf Dauer langweilt, dem Feuilleton antworten, das vetreibt die Leser, die mir lieber sind: die Netzjunkies.
Darum zur Entspannung: www.zentrifugal.de und da auf jeden Fall unter looppool schauen.

Sven Lager Berlin, - 18.09.99 at 14:25:39

1
Der Mann mit dem Persönlichen Referenten positioniert sich während der Tagung immer so, daß er mich genau im Blick hat. Egal, an welchem Punkt wir uns gerade befinden. Mittagspause, Plenumsdiskussion, Kaffeetrinken. Nach einer Weile hat er es geschafft, daß ich nach ihm Ausschau halte.
2
Am Abschluß einer Sitzung gehe ich durch den Mittelgang hinaus zur Tür. Plötzlich: er neben mir. Wir schreiten nebeneinander. Ich müßte nur noch seinen Arm nehmen.
3
Ich erzähle dem Mann mit dem Persönlichen Referenten, daß ich in einigen Wochen nach Athen reisen werde. Um meine neueste Patentochter kennenzulernen. Er war doch lange in Athen. Ob er mir da etwas empfehlen könne?
"Ach so, ja," sagt der Mann. "Sie wollen sich natürlich die Stadt anschauen. Man kann ja nicht den ganzen Tag lang mit einem Säugling Tee trinken, nicht wahr?" Er betont das Wort "Tee" sehr deutlich.
4
Ich lache. "Lieber, ich durchschaue Sie genau. Und ich fürchte, Sie haben mich auch durchschaut. Aber das finden wir nicht weiter schlimm, oder?"
Seine Hände flattern in die Luft empor, als er sich in seinem Sessel zurückwirft.

Carmen Samson Berlin, - 18.09.99 at 19:03:39

Ja, ja, schon gut, lieber Lorenz Schröter. Das mit dem Geschichtenerzählen und so, da haben wir alle was zu berichten. Und natürlich hast Du Recht: auch meine Angst ist ein abendfüllendes Thema. Können wir gleich mal den Plural nehmen: Ängste.
Worum es mir aber geht, und ich glaube, Georg M. Oswald auch, ist: warum Erzählen im pool? Unsere Geschichten können wir überall an den Leser bringen, unseren Verlegern und Lektoren und Verkaufsabteilungsleitern und Lesereisenorganisatorinnen sei Dank. Warum also ausgerechnet hier? Und: verändern sich unsere Geschichten, _weil_ wir sie hier erzählen? Ich glaube, ja. Und ich will wissen, warum. Und in welcher Hinsicht.
Kommt alles noch. DonÎt go away.

Carmen Samson Berlin, - 18.09.99 at 19:14:02

1
Ich glaube, sie hieß Frau Noack. Sie war die Hauswartsfrau und meine Nachbarin in meiner ersten Wohnung. Es war die schönste Studentenbude, die man sich hätte vorstellen können. Einbauküche, Badewanne. Wenn nur die Wände nicht so hellhörig gewesen wären.
"HaltÎs Maul, du Arsch." Das folgte gleichermaßen auf das Bellen ihres Schäferhundes wie auf einen gemurmelten Kommentar ihres Mannes.
2
Die Ehe war also nicht mehr so glücklich. Frau Noack, wenn sie denn so hieß, war entsprechend kontaktfreudig. Handwerker wurden de rigueur auf ein Bier eingeladen. Ich hörte vormittags, wenn ich Referate vorbereitete oder las, ihre heisere Stimme und das von einem hackenden Husten unterbrochene Lachen aus ihrer Küche herüberdringen. Ich stellte mir vor, wie die tiefbraunen Tränensäcke unter ihren kleinen Augen von einem Lächeln gestrafft würden. Vermutlich, so dachte ich mir, war sie viel jünger, als sie aussah.
3
Aus den Ferien zurückgekehrt, fand ich mein Bett abgezogen vor, die Bettwäsche ordentlich zusammengefaltet. Auf meinem Schreibtisch lag ein Horror-SciFi-Fantasy-Taschenbuch. Im Bad getrocknetes Blut unter dem Waschbecken. Frau Noack freute sich, daß ich mich so höflich für das gewaschene Bettzeug bedankte. "Na ja, Sie müssen doch auch sparen", sagte sie. Als ich meinen Schlüssel zurückforderte, fiel ihr mütterlich-nachbarschafts-freundliches Lächeln in sich zusammen. Es war gar nicht so hübsch, wie ich es mir vorgestellt hatte.
4
Ein halbes Jahr später wohnte sie nicht mehr nebenan. Ihre Nachfolger erzählten mir, man hätte sie in flagranti mit einem Handwerker in einer anderen Wohnung im Haus erwischt.
5
Als wenig später mein Durchlauferhitzer kaputtging, kam ein junger Monteur. Groß, blond. Ein strammer Bursche. "Ist denn Frau Noack gar nicht mehr da?" fragte er enttäuscht.

Carmen Samson Berlin, - 19.09.99 at 17:05:37

Vor ein paar Tagen ist meine Tochter ins Meer gefallen. Sie ist am Strand langgerannt, und irgendwann ist sie auf einer Qualle ausgerutscht und in die Ostseebrandung gefallen. Sie war ziemlich sauer auf das Meer und hat mit ihm geschimpft, und dann, zur Strafe, hat sie es naßgespritzt.
Sie hat mit ihren Beinen ins Wasser getreten und etwas gesagt, das 2 1/2 jährige Mädchen eben sagen, wenn sie "Nimm das" meinen. Als sie mit dem Meer fertig war und es mindestens so naß war wie ihre Klamotten, war sie zufrieden, und jetzt, da ich das lese, was hier und in der Presse seit Oswalds Brief passiert ist, muß ich wieder daran denken. Ich hätte die Ostsee fragen sollen, ob sie beleidigt war, von meiner Tochter naßgespritzt worden zu sein.

Stefan Beuse Hamburg, - 19.09.99 at 23:11:04

Deine Tochter, lieber Stefan, scheint mir ein sehr gescheites Mädchen zu sein. Sehr gescheit. Sie ist mir sympathischer als: die Ostsee. Ist die nicht überhaupt schon längst umgekippt?

Georg M. Oswald München, Deutschland - 20.09.99 at 00:19:16

 

Ursula Döbereiner, Berlin, - 20.09.99 at 12:54:03

 

Die Ostsee, lieber Georg, ist noch nicht umgekippt. Wohl umgekippt sind von Zeit zu Zeit die Rentner aus der Reha-Klinik neben unserem Feriendomizil bei ihren Strandspaziergängen. Aber darüber macht man ja keine Witze. Wohl auch nicht darüber, daß eine Reha-Patientin in der Kioskschlange vor mir "Einmal SOLERO EROTIK" statt "Exotic" bestellt. Oder darüber, daß die Kellnerin in der einzigen Pizzeria vor Ort auf meinen Wunsch nach einem Glas Prosecco mit: "Der kostet aber acht Mark" reagiert, während die "Teens" im Hintergrund »Comment ca va« singen und sie Vorspeisen-Brötchen reicht, mit denen man sonst im Zoo Elefanten füttert. Aber wahrscheinlich bin ich nur sensibel gegenüber diesen Dingen geworden, weil ich in der letzten Woche nacheinander Elke Naters »Lügen«, B.v.Stuckrad-Barres »Livealbum« und Christian Krachts »Mesopotamia« gelesen habe. Die volle Dröhnung halt.
Und da fallen einem dann natürlich automatisch Sätze ein wie "Der Valpolicella hatte die Farbe von Rabenhorst Kindersaft" oder "Der Kerzenständer stammte eindeutig aus der Zeit, in der man sich zum Geburtstag noch LEONARDO-Gläser mit Wolken drauf geschenkt hat."

Stefan Beuse Hamburg, - 20.09.99 at 14:17:50

1
Abendessen mit Freunden. Marilyn, die einen deutschen Nachnamen trägt, aber Amerikanerin ist, findet auf unserem Tisch eines dieser merkwürdigen Unterröckchen, mit dem in Deutschland die Biergläser bekleidet werden.
"Your skirtÎs slipping. Better cross your legs", sagt sie.
2
Chris, der einen englisch klingenden Nachnamen trägt und auch gebürtiger Neuseeländer ist, photographiert den kleinen Jungen vom Nachbartisch, der seit einer halben Stunde um uns herumläuft.
3
Eine Endfünfzigerin verläßt das Restaurant. Sie trägt unter ihrem roten Paillettenoberteil einen schwarzen, langen Rock, der bis zu der Stelle geschlitzt ist, an der wohl bei Frauen ihres Alters der Rand einer weißen Doppelripp-Unterhose liegen wurde.
Hinter ihr geht dieselbe Frau noch einmal. Dieselbe Figur, dieselbe Frisur, derselbe Gesichtsausdruck. In Jeans und einem Sweatshirt. Es dauert einen Augenblick, bis wir es begreifen.

Carmen Samson Berlin, - 20.09.99 at 17:57:49

Am Hot dog Stand:
"Na, holste dir deinen Hotdog?"
"Nee, und du?"
"Och nich."
"Na siehste."
Ich hol mir auch keinen Hot dog, sondern drei Staropramen.
Vorhin, auf dem Rückweg vom Spielplatz habe ich dort Würstchen für die Kinder gekauft.
Das Bier habe ich nicht gekauft, weil wir später ins Kumpelnest gehen werden.
Dafür wollte ich mir meinen Bierdurst aufheben.
Die Kinder haben gequengelt, ich war auf dem Fahrrad, in der einen Hand die Tüte, in der
anderen die offene, fast volle Coladose, die Anton unbedingt noch aufmachen mußte, bevor wir
gingen.
Zuhause war Cord auf dem Anrufbeantworter, daß er heute abend nicht kommen kann.
Dann bleiben wir auch zuhause. Während die Kinder ihre Würstchen essen, fahre ich
nochmal los, Bier holen und den Brief an meinen Vater einwerfen, damit der morgen da ist.
Die Coladose steht immer noch auf dem Tisch vor dem Hot dog Stand. Erst da fällt mir auf,
daß ich sie vorhin vergessen habe. Gerne hätte ich einen vertraulichen Schluck genommen.
Jetzt mach ich mir ein Bier auf und dann muß ich nochmal runter, Zigaretten holen.

Heute im Reisebüro, als ich die Flüge anzahlen wollte, habe ich die nette Reisefrau kaum
wiedererkannt. Sie war doppelt so dick. Als sie in den Computer tippte und ich ihr dabei
zusah, fiel mir auf, daß noch etwas anders war als sonst. Der Aschenbecher mit der immer
qualmenden Kippe fehlte. Stattdessen stand ein Glasschälchen mit Bonbons auf dem Tisch, von denen sie mir zum Abschied eins anbot.

Elke Naters Berlin, - 20.09.99 at 20:28:41

MONTAG
Sinnfrage; huha! Darf man sich die Frage überhaupt stellen? Lohnt sich das, in dem Sinn, dass etwas NEUES dabei rauskommt, etwas FRISCHES, etwas WAHRES, kurz also: dass ES unterhält? Schriftlich? Im Tagebuch? An einem - Achtung, ja! - an einem Montag? Doch. Ich versuche das jetzt mal. Kurzfassen! Offensichtlich ist, dass Sinn nach Tat kommt, nicht Tat nach Sinn. Wache ich auf, morgens, denke ich doch nicht, was wird dieser Tag wohl bringen? Da denke ich: schneller! Handy nicht vergessen! Zeugs zusammenraffen! Ist mein Handy aufgeladen? Habe ich wirklich nichts vergessen? Ist vielleicht einer beleidigt? Warum sind immer alle beleidigt? Wen vergesse ich, der demnächst beleidigt ist? Und so passiert dann eins nach dem anderen, mehr so für sich, wickelt sich ab, von vielen und mir gesteuert, aber sicher nicht nur von mir: Redaktionsalltag. Das war heute Post aufmachen, durchgucken, wissen, was man wegschmeisst, was besser nicht. Auch: wissen, warum man was wegschmeisst. Das sind ja alles Mitteilungen, bei denen sich Leute etwas GEDACHT haben. Da steckt ja immer: unendlich viel ARBEIT drin. Telefonate mit: vergessen. Zwischendrinn: Kaffeechen. Zwischendrin heute auch die absolut reizende Unterbrechung von Freund Oskar, der braungebrannt, kurzgeschoren, im silbrigen Lametta-Anzug aus Isreal ankam. Er sieht jetzt endgültig aus wie ein Geheimagent. Vorher hatte am Telefon über Alex, seiner Ex-Freundin, versucht auszurichten, dass ich ihn jetzt unmöglich, in circa zehn Minuten aber bestens sehen könne. War ihm völlig wurscht. Er stand dann sofort da, groß grinsend, winkend. Perfekt. So geht Freundschaft: Was will sich Freund Oskar um meine Zeit-Wehwehchen kümmern? Zuhause: verdreckte Wohnung, Großmutter am Telefon, Bierhunger. Grrrr! Ich will ein Bier! Am Wochenende dachte ich, dass ich mir diese Woche in jedem Fall eine Zeitschrift abonnieren werde, Theater heute oder Segelyacht, etwas absolut Fremdes, Unbegreifliches, Rätselhaftes, das sich mir durch fortgesetztes Rumliegen in meiner Wohnung, almählich nähern, sich öffnen, mir eine fremde Welt ERKLÄREN würde. Fand ich toll: als Idee. An meinem Zeitungskiosk hing Aufläufe aus. Es MUSS noch was passieren. Vielleicht später beim Bierchen im ³Schumannâs". Sinn heute? Aufläufe. Nee. Nee. Tut mir leid. NOCH unklar.

Moritz von Uslar, München - 20.09.99 at 21:40:53

Am Samstag mit Onkel Vinzenz (sprich: Finzenz)zum Anstich im Schottenhammelzelt. Vinzenz betreibt ein Zeitschriftenkiosk an der Tegernseer Landstrasse in Giesing, ist naturgemäss 60er-Fan, wählt, seit er denken kann SPD, verehrt Edmund Stoiber wie einen Gott, säuft acht halbe am Tag und ist beim Watten noch nie in seinem Leben besiegt worden. Den dialektischen Widerspruch zwischen seiner SPD-Wählerei und der Stoiberverehrung hebt er mit einem Achselzucken auf: "Ich wähl ja die Bundes-SPD".
Dass Oberbürgermeister Ude (SPD) und Edmund Stoiber (CSU) den Anstich gemeinsam vornehmen, scheint ihm wie ein Vorgeschmack auf das paradiesische Glück, bei Stoibers (CSU)Lob ins Mikrofon des moderierenden Schleimlings in Modelederhosen, dass Ude (SPD) schon recht gut anstechen könne, geht Vinzenz das Herz auf. So stellt er sich den Garten Eden vor, Stoiber (CSU) und Ude (SPD) liegen sich auf einem ewigwährenden Oktoberfest in einem Biersee engumschlungen in den Armen und schreien "Ozapft is!"
In ein Wiesn-Zelt passen Zehntausende von Menschen. Vinzent kennt sie alle, er grüsst jeden. Im Nu geht ein Watt zusammen. Ich muss mitspielen, und obwohl ich viel bei ihm gelernt habe, verliere ich innerhalb von zwanzig Minuten fünfzig Mark. Ich will aufhören. Vinzent knallt einen Hunderter auf den Tisch und befiehlt: weiterspielen.
Drei Stunden später ist Vinzenz komplett besoffen und ich habe den Auftrag ihn nachhause zu bringen. Das tue ich. Er weint vor Glück und jammert, "wenn nur der Stoiber und der Ude in einer Partei wären". Ja,ja. Noch als er auf dem Bett liegt und ich ihm die Schuhe ausziehe, winselt er dieses Zeug von Stoiber und Ude in einer Partei. Dann ein kurzes Aufbäumen, er grölt: "Achtundfuchzig, neunundfuchzig, SECHZIG" - dann schläft er endlich ein. Was für ein Anstich.



Georg M. Oswald München, Deutschland - 21.09.99 at 00:00:40

was tun? es gibt nichts zu tun. macht nichts, einfach irgendetwas: duschen, waschen, füttern, sportseite lesen. und sonst? mein buch "JACKIE !" gestern bei auftraggeber ullstein abgeliefert. sehr schoen. auszuege: "jackie, we love you". kommt im november in die läden ("as seen on tv"). auftrag erledigt. aber jetzt? was tun? ich schreibe endlose themenlisten: dicht, detailliert, umfassend. ich denke, wenn die liste entsteht, erledigt sich das thema von selbst, yeah.
ruhig bleiben, gute laune bewahren. draussen scheint die sonne. auftrag von sz-feuilleton liegt auf dem tisch. sollte mich mal dranmachen. schoenes thema. mister f. und l.a. sehr schoenes thema. ich freue mich richtig drauf. aber sonst, was tun? play day songs bis 10 am. kino am mittag? es gibt nichts erleuchtenderes als nach einem sci-fi-film im cinerama dome - bevorzugt: etwas pro-zukunft-faschistisches von verhoeven - in die californische mittagssonne am sunset zu treten. die frage nach der korrekten sonnenbrille wird dann zur überlebensfrage.
was tun? echtes kino? "american beauty", besster film des jahres? bester darsteller des jahres: kevin spacey, oskarverdaechtig? ein thema? was tun?
drinks bei hank&frank;. dort sitzt mein freund georg diaz, limousinenfahrer, schlecht gelaunt: .......greedy ass bitch didn t give me shit ........georg erzaehlt von einem VANITY FAIR fotoshoot in culver city. saemtliche bond-girls werden im november-heft komplett auf einem bild erscheinen. das geht schon rein logistisch gar nicht. also liess man die girls in london, new york und los angeles fotografieren. spaeter werden die bilder zusammenmontiert. wunderbar. aber was hat georg diaz damit zu tun? klar: er fuhr bondgirl barbara bach vom international airport LAX ins culver-studio zum fototermin. danach ins beverly hills hotel. routine. gewoehnlich kassiert georg 100 dollar trinkgeld am tag. die bach gab ihm nichts. greedy ass bullshit... also ab in die h&f;-bar, die beste saufoper westlich von senor kumpelnest (hallo cord).
aber was tun? reden? fragen?
verändern sich geschichte, weil sie im pool erzählt werden?
frage gleich an georg weiterleiten. was meinst du?
bullshit, wer will das wissen?
die frage wurde im pool gestellt.
pool?
was tun?
nachdenken. einfach locker ueber die arbeit nachdenken. wie moritz. da lernt man was. gruesse an ulf....

tom kummer los angeles, usa - 21.09.99 at 05:37:27

Sonntag mittag, Marlene-Dietrich-Platz. Die beiden Jungs sind alleine und der Große hat sich gedacht, es ist Zeit sich auch das mal anzusehen. Das Dreirad haben wir dabei, das versprochene Eis für zweifünfzig die Kugel auf der Hand. Wir lieben unsere Jungs ja, hatte Hauke letztens gesagt! Plötzlich Sirenen, vier Bullenbusse, vier überdimensionale Feuerwehrzüge rauschen die kleine Straße hinunter. Alles kuckt nach oben auf der Suche nach dem Grund. Die Frau neben uns ruft aufgeregt: Soll er doch springen, wenn er nicht mehr leben will, das ist meine Meinung. Sie wiederholt es dreimal. Oben auf dem Balkon zündet sich der Mann eine Zigarette an und geht wieder in seine Wohnung. Dann kommt er wieder heraus und kuckt hinunter, auf der Suche nach dem Grund. Der Kleine fragt den Großen, warum die Feuerwehr gekommen ist. Ich sage: Keine Ahnung, ich glaube zur Unterhaltung. Der Kleine sagt: Hä? Ich sage: Ich weiß es nicht. Die Beamten kucken ein bißchen herum, sperren für ein paar Minuten eine Straße ab, bevor sie wieder abziehen. Wir fahren anschließend zum Spielplatz, wo ich in der Sonne kurz einnicke und später den Kleinen glücklich mit einer fremdem Eisenbahn spielend wiederfinde.

Ralf Bönt im Dichterviertel, - 21.09.99 at 11:47:02

Mögen Sie Hip-Hop-Texte?
Ich habe mich daran gewöhnt. Ich war auch so ein Großmaul als ich jung war. Ich habe in meinem Leben mehr Schlachten geschlagen und Kriege geführt als Deutschland; und ebenso viele verloren. Nach zwei Drinks fühle ich mich immer zwei Meter groß. Und dafür habe ich auch groß aufs Maul bekommen. Meine Spezialität war es, mich mit Typen anzulegen, die wesentlich größer und massiver als ich waren, daraus habe ich gelernt. Wenn ich einmal wiedergeboren werden sollte, schlage ich mich nur noch mit Kandidaten, die kleiner und schmächtiger als ich sind.
Christoph Dallach im Gespräch mit Lee Hazlewood

Moritz von Uslar, München - 21.09.99 at 12:24:43

Sitze in der Küche, muß still sein. Sie filmen Elke. Im Bett, auf dem Sofa, in der Küche. Die Küche knarzt, der Boden. 'Tote Jungs': Comics und Geschichten. Ich lese die Comics. Schönes Zweitausendeins-Buch. Ich mag keine Comics. Soll ich lesen oder Bilder gucken? Soll ich den Film sehen oder die Untertitel?

Der Regen: verflüchtigt. Weißes Licht durch die gewaschene Luft. Menschen in Regenjacken, immernoch. Prosa. Der erste kühle Regen bringt Prosa. Wie die klaren kurzen Bewegungen eines Kung-Fu-Kämpfers.

Die Luft hat ihren eigenen Geruch. Knapp und klar. Antworte ich auf seine Frage. Jetzt wickelt der Lichtmann die Kabel. Über die Hand und den Ellbogen. Das ist prosaisch.

Als ich das Wort das erste mal lese, denke ich an Arbeiter auf einem Wolkenkratzer. In der Kantine, sie kauen mit dem Blick aus dem Fenster, ins Nichts.

Mit schnellen Schritten sammelt er seine Stecker und Lampen ein. Er geht, lässt seine Zigarette im Aschenbecher. Der Rauch steigt auf, gierig, dann bricht er aus in Schnörkel, beschleunigt. Aber die Luft saugt ihn auf. Er kommt nicht einmal bis zur Decke.

'Blam! Blam! Blam! ...Klick!'

Sven Lager Berlin, - 21.09.99 at 13:32:26

1. Demokratie ist nicht klassenlos, sondern Respekt von Mehrheit und Minderheit voreinander. Markt ist Respekt vor der Mehrheit und Negation der Minderheit. Die Eliminierung heißt immer Integration. Der gesunde Markt besitzt eine semipermeable Membrane. Ein freier Markt bietet der Minderheit keinen Zugang mehr. Er ist selbstreferentiell und wirft die Mehrheit, die sich nicht ertragen kann, auf sich selbst zurück. So erstickt der freie Markt erst sich und dann die Demokratie.
2. Pop ist kultivierte Angst der Mehrheit vor jenen Eigenschaften einer Minderheit, die sie vor der Mehrheit zur Minderheit macht. Pop will sie deswegen eliminieren. Daher ist Pop aggressiv und elitär. Pop ist der Elitarismus einer selbstunsicheren Mehrheit gegenüber einer von ihr selbst bezeichneten Minderheit. Eine selbstunsichere Mehrheit ist, zu Ende gedacht, ein Problem. Klein kleines, wie wir noch sehen werden.
3. Imre Kertész hat, aus Anlaß des Kinofilms "Das Leben ist Schön" von Roberto Benigni, darauf hingewiesen, daß "die Authentizität zwar in den Details stecke, aber nicht unbedingt in den gegenständlichen." Er hat mehrere Konzentrationslager überlebt, in stolzer Einsamkeit Bücher geschrieben, für die man keine Worte findet, und läuft nach Jahrzehnten der Mißachtung heute Gefahr, zum Popstar gemacht zu werden.

Ralf Bönt (Berlin), (D-Land) - 21.09.99 at 16:44:22




Tom! Aus der Ferne vergißt man ja oft oder weiß gar nicht, daß es in Kalifornien eine ganz eigene Authentizität gibt, die nichts vom Palmen-geschmückten Sonnenimage hat, das diesen Staat umgibt wie ein Würgeisen. An Hank & Frank kommt man sowieso nicht mehr vorbei, weil sie einen dort trotz des gesertzlich verordneten Gesundsheitstotalitarismus noch rauchen lassen, ohne verschwörerische Diskussionen, nein, der Barkeeper stellt einem anstandslos einen Aschenbecher neben die Schale mit den Nüssen. So weit sind wir ja schon, daß wir das als große Geste anrechnen. Von außen sieht Hank & Frank so aus wie die Miniaturausgabe einer 50er Jahre Pololounge, mit aufgeschraubten Schriftzug auf hellgestreifter Wand und getönter Glastüre. Diese Sorte Bars gibt es auch nur in Amerika, dunkle Schläuche, die Einrichtung auf ein Minimum an Trinkerkomfort reduziert, alles andere würde sowieso stören, so daß sich die ganze Welt schon nach dem zweiten Glas auf diesen einen Tresen konzentriert, von dem aus man sich und die Welt mit souveränem Abstand betrachten kann. Tom! Dezember oder Januar....

Andrian Frankfurt, - 21.09.99 at 17:55:01

1
Ihre besonderen Freunde. Sie lächeln sie schon von weitem an, wenn sie sie kommen sehen. Stehen sie nicht am gewohnten Platz, fragt sie sich, ob etwas passiert ist.
2
Der eine sagt es immer noch, obwohl er schon lange weiß, daß er nicht zu fragen braucht: "Eine milde Spende, bitte." Neben ihm steht seine zum Bersten voll gepackte Sporttasche. Während sie eine Münze heraussucht und sie ihm in die Hand drückt, plaudern die beiden über den schönen Sommer oder die verschiedenen Standorte, an denen sie ihn schon getroffen hat. Sie wirken ein bißchen verlegen, aber sie kommen ganz gut zurecht miteinander.
3
Der andere ist ein kleiner Säufer mit dicker Brille. Wenn er sehr betrunken ist, dann steht er leicht schwankend da und summt vor sich hin. Als sie ihn einmal nach langer Zeit fragte, wo er denn gewesen sei, antwortete er: "In der Entzugsklinik. Ich bin jetzt nämlich trocken." Diese Auskunft artikulierte er sehr sorgfältig.
4
Vor kurzem stand ein Oldtimer in der Straße. Riesige, geschwungene Schutzbleche über blendend weißen Reifen. Sinnliche Formen. Blitzende Chromfelgen.
Davor stand der kleine Säufer, die Arme weit ausgebreitet. Mit den Händen zeichnete er in der Luft die Konturen des Wagens nach. Ihn zu berühren, hätte er nicht gewagt. Aber die Aura nachzeichnen, das ging.

Carmen Samson Berlin, - 21.09.99 at 21:40:47

Jetzt netzts aber! Ein schöner Text von Georg bei Null. Dann bin ich auch sehr erschrocken als ich meinen und Elkes Namen da las unter NEU, weil ich ja, wie Georg schreibt, nur auf Jagd war nach ... Elkes und mein Statement stehen da, die wir bei diesem famosen LCB-Wochenende aufgesagt haben, wofür ich hier nochmal ganz schlicht und klar danken will. Wann wird man schon bedient und bezahlt und bekocht und so herzlich durchgeschüttelt und hat so einen verdammt großartigen Blick, nur weil man auch da ist, um was zu sagen.

(Ich will tagen, tagen, tagen, mich im Hotelzimmer fragen
soll ich rauchen, oder nur die Bar aufbrauchen
die Hasen zähln, die meine Rasen geln
und in den Airport einschweben, wie ins richtige Leben.
Ja, ...mir die Prosa geben).

Sven Lager -Nacht, - 22.09.99 at 02:16:14

1
Die Reise in die Vergangenheit beginnt im Konsulat. Im Warteraum hängt eine Videokamera. Kein Mensch im Glaskasten des Pförtners. Dafür hängen sechs kopierte Blätter an der Wand. Eng sind darauf die Bedingungen für die Beantragung eines Visums gedruckt. Die in der holzvertäfelten Wand eingelassene Tür erkennt man kaum. Sie ist selbstverständlich geschlossen, und genauso selbstverständlich hat sie keine Klinke.
2
Mein Visum, sage ich, sei in Moskau beantragt worden, und das Außenministerium habe die Erteilung bereits genehmigt. "Das werden wir noch sehen", sagt der Konsularbeamte. Seine drei Kollegen im Zimmer schauen ihm zu. An ihren Plätzen sitzt kein Antragsteller. Ich blicke in die Augen des Mannes auf der anderen Seite des Schreibtisches. Darin finde ich nur eine müde Abneigung gegen Frauen wie mich.
Ich will dieses Visum. Das scheint ihn zu ärgern. Als ich den Konsul zu sprechen verlange, sagt er: "Der Konsul bin ich."
3
Und es gelingt ihm: mein Selbstbewußtsein sackt in sich zusammen.
4
Als ich sage: "Sie haben gewonnen, nicht wahr?", gibt er mir ein Antragsformular. Das solle ich ausfüllen. Und die Versicherungskarte auch. Dann könne ich wiederkommen. Ich fülle alle Zettel aus, besorge im Reisebüro eine Krankenversicherungsbescheinigung und kehre zurück. Den Packen Unterlagen werfe ich in den Schlitz am Glaskasten zum Zeichen, daß ich meine Aufgabe nun erledigt habe.
5
Nach einer dreiviertel Stunde Wartezeit ruft mich der Beamte an die Tür, der sagt, er sei der Konsul. Nur die Quittung für die Visagebühr dürfe ich in den Schlitz werfen. Die Unterlagen gehörten da nicht hinein. Er gibt sie mir zurück. "Warten Sie."
6
Eine Frau kommt in dem Augenblick dazu. In den Händen hält sie einen Umschlag. Sie würde gerne diesen Brief abgeben, bitte. "Schicken Sie ihn per Post", sagt der Beamte. Die Frau fragt, ob sie den Brief nicht einfach in den Briefkasten des Konsulats werfen dürfe. Das alles hätte nichts mit ihr zu tun. "Schicken Sie den Brief per Post", wiederholt der Beamte. Die Frau versteht nicht. Aber sie wirft den Brief weder in den Schlitz des Pförtnerraums, noch vorne in den Briefkasten. Sie wird jetzt wohl zur Post gehen, denke ich.
6
Nach einer weiteren dreiviertel Stunde kommt ein anderer Mann. Er ist groß, attraktiv und sieht freundlich aus. Seine Stimme klingt angenehm, als er die Nummer vierzehn aufruft. Die Nummern sind mit blauem Filzstift auf große Notizzettel gemalt, die mit dem Stempel des Konsulats versehen sind. Vermutlich hat das einen Sinn. Jedenfalls kann sich so niemand mit einer Wartenummer aus der Bäckerei einen Platz erschleichen.
7
Ich sage, ich hätte die Nummer sechs. Und warte schon seit dem Morgen. Der freundliche Mann nimmt mich in sein Büro. Es liegt in einem hinteren Raum, und er sitzt dort alleine. Der, denke ich, der ist der wirkliche Konsul.
8
Es ist tröstlich, bei ihm zu sitzen. Er sagt mir genau, was ich jetzt tun soll. Nämlich mit meinem Paß zur Information gehen und sagen: "Einmalig, vom 17. September". Ich habe keine Ahnung, was das heißt. Aber als ich es der Frau an der Information sage, reicht sie mir einen Telexabschnitt.
9
In dem Augenblick kommt der Beamte, der sagt, er sei der Konsul, von dem ich aber weiß, daß er es nicht sein kann, denn ich kenne ja jetzt den wirklichen Konsul. Die Frau an der Information will dem Beamten meinen Paß geben, und mir stockt das Herz. Die Angst, er könne meinen Antrag ab jetzt wieder bearbeiten, ist körperlich.
10
Ich entreiße den beiden meinen Paß und eile zurück in das zum Garten hin gelegene Büro. Es geschieht nicht, was ich befürchtet habe: daß der Beamte oder die Frau von der Information mich zurückrufen.
11
Der Mann, der der wirkliche Konsul ist, fragt mich, was ich beruflich tue. Ich sage ihm: "Unter anderem schreibe ich." Und mit Bedauern füge ich hinzu: "Auch über heute morgen werde ich schreiben." Er will wissen, in welcher Zeitung. Als ich "Im Internet" antworte, ist sein Blick leer.
12
Ich stelle mir vor, wie lauter KGB-Agenten an ihren Computern sitzen und über Suchmaschinen das Auftreten der Worte "Russisches Konsulat", "KGB-Agent" und "Moskau" im Internet recherchieren. Und daß sie jetzt einen abkommandieren, der mein Gepäck genauestens durchleuchten soll.
13
Man könnte sich natürlich auch eine Überraschung einfallen lassen. Daß einer mit Blumen da steht und sagt: "Willkommen in Moskau, verehrte Frau v. Samson. Der Konsul in Berlin wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und läßt herzlich grüßen: er fand Sie auch ganz reizend."

Carmen Samson Berlin, - 22.09.99 at 16:34:11

Bitte lesen: Norbert Niemanns Kommentar zu Kracht/Barre unter www.heinerlink.de/nonie.htm. mit Datum vom 21.9.99. - Bitte, SAG DA DOCH MAL EINER WAS ZU!
Ich hab grad nämlich den halben Nachmittag damit verbracht, eine Entgegnung zu schreiben - und dann stürzt dieses Drecksinternet ab. DRECKSINTERNET!

Stefan Beuse Hamburg, - 22.09.99 at 16:50:32

Gottchen. Was muss dieser Norbert Niemann für ein Wichtelmann sein. Das heißt, ich kenne ihn ja. Ich habe ihn einmal in Klagenfurt gesehen: als Gewinner. Er sah aus wie ein geiler Wichtelwichtel. Schreiben, weil man doof aussieht. Ich glaube, ich lese nur noch die, die STRAHLEND gut aussehen. Oder STRAHLEND scheiße. Dazwischen: Niemann-Land. Seine krampfigen Bedäänken. Problääme! Bäh.

Moritz von Uslar, München - 22.09.99 at 22:10:11

DIENSTAG
Heute wieder durchgehend: telefoniert. Das ist meine Arbeit, das auszuhalten. Bla. Blabla. Blablabla. Lalalala. Und immer, immer wieder: BRABRA! BRA! Es ist ja ein alter, immer toller Trick, am Telefon plötzlich, völlig unmotiviert, die Lautstärke zu wechseln. Leise, freundlich: nö. Dann brülllaut, genauso freundlich: JA! Ich kann das, nach mittlerweile zehn berufsbedingten Telefonjahren, wirklich gut: mit JEDEM sprechen. Darauf bin ich: stolz. Wer sind Sie? Aha! Interessant! Nein, ich rede gerne mit Ihnen! Nein, ich versteh kein Wort! Nein, das ist leider nichts für uns, aber schicken Sie doch ein Fax! Oder reden Sie einfach weiter! Dann sage ich Ihnen - gerne! - schriftlich ab. Jawoll! Bis dann! Kunststück eins: ausreden lassen. Kunststück zwei: das alles nochmal schriftlich verlangen. Kunststück drei: Geräusche. Ich stelle mir vor, dass Ron Sommer, die Sorte durchtrainierte Deutschland-Manager mit randloser Brille, praktisch nur noch so redet: gurrend, grunzend, auch immer gerne mit was im Mund. Und die Sekretärin weiß: Oh! Jetzt ist er sauer! Der Bundeskanzler: verstanden. Kümmern wir uns drum. Zuhause: verdreckte Wohnung, Großmutter am Telefon. Da meldet Jim, der Berliner Jim, den heute das Schicksal traf, ein echter Hammer, zur besten Telefonierzeit gegen halb zwölf, leicht angedingst, aber eben nur leicht: ³Weiste, da lauft mal alles, da stimmt DITT mal. Und dann kriegst du da voll die MOSCHE REINGEJAMMT!" Das ist es. Es ist doch immer dieselbe Scheiße. Sinn heute: Durchtelefoniert.

Moritz von Uslar, München - 22.09.99 at 22:14:56

Luzie wacht nachts auf und hat Durst. Ich stehe auf und gehe in die Küche, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Auf der Küchenuhr ist es drei. Ich lege mich wieder hin und schlafe weiter. Dann wache ich auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich gehe in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Auf der Küchenuhr ist es drei. Zeitschlaufe.
Vor einigen Tagen habe ich den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" im Fernsehen gesehen. Da wacht einer Tag für Tag am gleichen Tag auf. Als hätte es kein gestern gegeben. Alles was er an diesem Tag unternimmt, selbst wenn er sich das Leben nimmt, ist am nächsten Tag vergessen, weil er den gleichen Tag wieder und immer wieder erlebt. Er versucht eine Frau zu verführen und muß jeden Tag wieder von ganz vorne damit anfangen.
Was das für das Schreiben bedeuten würde, denke ich mir, im pool, wenn alles, was ich heute schreibe, morgen vergessen wäre. Der Gedanke gefällt mir.

Elke Naters Berlin, 3 Uhr - 23.09.99 at 14:14:36

Ich hab ihn mir durchgelesen den TEXT auf dieser anderen Webpage von Georg. Schoen, dass sich da einer Gedanken macht, dachte ich. Schoen auch deshalb, weil man sich dann selber keine machen muss. Dachte ich auch und schon machte ich mir Gedanken.
Dass das was im Pool steht auch in einer Anthologie stehen oder auf einer Party gesagt worden sein koennte, das ist schon mal das Allerbeste. Ich kann darin keine Schwaeche erkennen. Weil: lesen und reden beides zu den Groessten Dingen ueberhaupt gehoert, die man tun kann.
Das mit den Computerspielen und der Internet-Abhaengigkeit ist mir voellig schleierhaft. Versteh mich nicht falsch: ich liebe Technik. Ich mag Maschinen. Ich mag das Geblinke, Gepiepse und ich kann innerhalb weniger Sekunden Videorekorder programmieren und die grundlegenden Funktionen der meisten eletronischen Geraete erscheinen mir plausibel. Wenn ich nicht innerhalb von wenigen Minuten etwas bezwingen kann, dann werde ICH ungeduldig. Ich werde aber nicht wahnsinnig, weil der Film, den ich mir auf Video ansehe mir nicht gefaellt, oder ich die Banane nicht von dem Baum pfluecken kann. Grundlegender Unterschied: DU willst die Maschinen beherrschen, das Netz, das System bezwingen, das Spiel gewinnen, das findest du sexy. Ich finde sexy, was danach kommt, wenn Georg die Bananen im Sack hat und aus dem Gerichtssaal kommt und erzaehlt von Lastwagenfahrern, Ude (SPD), Stoiber (CSU) und Norbert Niemann (FAT). Am Abend erzaehlten wir uns Geistergeschichten.

Eva Munz Bangkok, Thailand - 23.09.99 at 14:24:01

"Ich pinkel nicht ins Bett und wenn ich muß, dann steh ich auf". Der Zauberspruch, der vor nassen Laken bewahren soll. Und es funktioniert. Meistens. Gestern Nacht wieder in der Pfütze gelegen, weil Anton mich warm und gemütlich von hinten anstrullert.

Die Nächte sind derzeit unruhig. Die Batterie der Küchenuhr habe ich inzwischen ausgetauscht. Mein Vater hat sich noch nicht auf meinen Brief gemeldet. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich in eine Angelegenheit gemischt habe, aus der ich mich besser hätte raushalten sollen.

Mein Kopf piekt, deshalb bin ich zuhause geblieben, während Sven zur Wagenbachfeier radelt. Einmal feiern die Woche reicht mir fast. Und das war gestern. Als dieser blonden Frau der Rotwein aus dem Magen in den Mund stieg und sie blieb mit geblähten Backen sitzen und anstatt aufzustehen und dezent zu kotzen, schluckte sie das ganze Zeug wieder runter. Zu Recht hatte ich mich gewundert Cord in Begleitung einer BLONDEN Frau zu treffen.

Elke Naters Berlin, - 23.09.99 at 20:48:18