Großes Blau

Das große Blau, die Stille. Hier vorne hell, klar, in gewisser Weise ohne Farbe und doch türkis, grünlich, wie verdünnter Absinth. Dann, je weiter der Blick schweift, desto mehr Dunkles mischt sich in den Raum, der keiner zu sein scheint, der schweben lässt. Hier und da noch durchsetzt von fast weißen, vibrierenden Geraden, die von schräg oben, von der anderen Seite, das Vergessene als schwachen Widerhall zurück rufen. Dann die gänzliche Schwärze, die Wand, das vom Auge Undurchdringliche. Die Stille ist keine wirkliche, hier eine Luftblase, dort ein Zischen, und über allem liegt das gleichmäßige Geräusch des Atems. Doch sonst nichts. Unten der Boden, der auch keiner zu sein scheint, unwirklich in Farben und Formen. Dazwischen das sich Bewegende, das Leben, stromlinienförmige Leiber, in Schwärmen schnell vorüberziehend oder langsam und alleine auf unsichtbaren Wegen gleitend. Und die eigene Position ist gar keine, keine körperliche, scheint es, nur der schwebende Blick, der ohne belastende Materie die Dinge schaut. Und immer wieder das Erstaunen, atmen zu können. Keinerlei Geruch. Nicht das. Nur ein ständiger Grundton von Salz und Gummi. Plötzlich dann, unvorbereitet, seltsam, der Gedanke an die Düfte der Frauen. In der Tiefe schwebend, nicht unten, nicht oben, die olfaktorische Erinnerung an Liebe, Körper, Lachen. An die Momente, in denen ein Duft, ein Geruch das ganze Universum neben die eigene Position stellt, oder auch nur ein Hauch, eine Ahnung dieses einen Duftes, irgendwo auf der Straße, im Vorübergehen, das Herz für einen Moment zum Stehen bringt. Lange Zeit war es etwas schweres, französisches, patchouliartig, das nur zu langem schwarzen Haar und porzellanfarbener Haut passte und heute immer noch wie auf Knopfdruck die Archivschubladen des eigentlich immer Präsenten aufgehen läßt. Wie alle anderen Düfte, die folgten. Beispiele, die keine sind, niemals sein können. Italienisch, wie Honig und Minze, zu grünlichen Augen und vereinzelten Sommersprossen unter kastanienbraunem Haar; der trotz allem noch immer in manchen Momenten vermisst wird, und wenn es nur um seiner selbst willen ist. Anderes, sich niemals gleichend. Und nun eine Art nordischer Sommernachtstraum im Halbschlaf, der sich von gewußten Wahrheiten nährt und genährt wird, in dem das wissende Blau der Augen vom Duft einer finnischen oder schwedischen Fjordlandschaft umflort wird, gemischt mit etwas anderem, schwerem, das nicht zu definieren ist, ein Tropfen Wein hinter dem Ohr und auf den Lippen, später. Vielleicht. Nur eine Ahnung, 10000 Kilometer entfernt, fünf Stunden hinter der Zeit. Vorhin dann, vor der Veranda, am Strand, das Licht vom Sonnenuntergang verklärt, im Salz- und Fischgeruch, der Duft aller geküssten Lippen, durchwachten Nächte und berührten Nacken, der gefühlten Haut und des Lächelns vor Sonnenaufgang; verschmolzen zu einem einzigen Geruch, der alles andere verschwinden ließ. Welcher seiner Teile wird bleiben? Vor einem Monat, in der Buchhandlung, als ich mit einem Jutesack voll Thomas Bernhard an der Kasse stand, sprach neben mir eine mit Trainingsanzug bekleidete Frau zu ihrem ähnlich gewandeten Mann, der ratlos das Regal hinauf- und hinab blickte: "Du musst doch irgend etwas zu lesen mit nach Sosua nehmen, nachher ist dir wieder langweilig und ich muss darunter leiden!" "Aber du weißt doch, dass ich nicht lese, das ist mir zu anstrengend." Woraufhin die Frau den Mund verzog, resolut ins Regal packte, ein Paperback herausgriff und sagte: "Hier, nimm das, das liest jeder, also kannst du das auch." Es war "Das Parfum" von Patrick Süßkind.